MUSICA OBLITA

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Sinfonie Nr. 4 C-Dur op. 60

Wann genau Kalliwoda an seiner vierten Sinfonie arbeitete, und wann er sie fertig stellte, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Den groben Rahmen für ihre Entstehung markieren die Daten der Uraufführung der dritten Sinfonie am 10. März 1830 in Donaueschingen[1] und der ersten nachweisbaren Aufführung der vierten Sinfonie am 12. März 1835 in Leipzig, die ungefähr gleichzeitig mit dem Erscheinen des Stimmdrucks erfolgte.[2] Man wird jedoch annehmen dürfen, dass sie im Oktober 1832 noch nicht fertig vorlag, denn zu dieser Zeit weilte Kalliwoda in Leipzig, um im dortigen Gewandhaus zu konzertieren, und er hätte die Gelegenheit sicherlich genutzt, eine für Leipzig neue Sinfonie aufzuführen, wenn er zu diesem Zeitpunkt eine neues sinfonisches Werk fertig vorliegen gehabt hätte.[3] Also kann zumindest der Abschluss der Komposition eingegrenzt werden auf den Zeitraum zwischen Oktober 1832 und März 1835. 

Der erfolgverwöhnte Kalliwoda muss von der Aufnahme des Werkes bei Kritik und Publikum enttäuscht gewesen sein. Der Rezensent der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung (wahrscheinlich der Herausgeber Gottfried Wilhelm Fink selbst) schreibt über Kalliwodas Werk, nachdem er von der lauen Aufnahme einer Sinfonie des Dessauer Hofkapellmeisters Friedrich Schneider berichtet und unmittelbar zuvor Louis Spohrs vierte Sinfonie sehr positiv charakterisiert hatte:

Sehr erwünscht würde es uns sein, wenn wir von der 4ten neuen Symphonie unsers Freundes Kalliwoda dasselbe [sc.: wie von Spohrs Sinfonie] berichten könnten. Da kann aber keine Freundschaft helfen; wir hätten sonst Schneiders Werke auch einen lebhaftern Antheil des Publikums gewünscht. Die Stimmen waren diesmal sehr getheilt und der Eindruck nicht allgemein günstig. Wir selbst geben nach dem ersten Hören, besonders wenn wir, wie hier, nicht einmal die Partitur gesehen haben, nur ausnahmsweise unser Urtheil, in diesem Falle um so weniger, da das Werk ganz eigen, von seinen frühern und von den andern abweichend, angelegt und im Fortgange gehalten worden ist. Diese eigene Richtung, die der vorherrschenden Neigung des Publikums nicht nahe genug steht, mag auch wohl hier die Erscheinung erklären. Uebrigens kann sich jedes Orchester selbst von ihrem Gehalte überzeugen, sie ist bei Peters hier im Drucke erschienen.[4]

Ähnlich zurückhaltend äußert sich auch das von Robert Schumann herausgegebene Konkurrenzblatt Neue Zeitschrift für Musik. Auffällig ist, dass die Rezensenten in beiden Fällen den offensichtlichen Misserfolg des Werkes beim Publikum vorsichtig zu relativieren versuchen, indem sie auf die Neuartigkeit des Werkes sowohl aus der Perspektive der Gattung als auch im Hinblick auf Kalliwodas bisher bekannten Kompositionsstil hinweisen:

Ueber Kalliwoda’s vierte Symphonie, die bei Peters erschienen und im letzten Abonnementconcert in Leipzig zum erstenmal gespielt wurde, halten wir mit unserem Urtheile zurück, bis wir sie aus der Partitur kennen. Sie scheint eben mehr als seine früheren ein Werk für das Auge, eine Arbeit, die man nach einmaligem Anhören leicht zu gering anschlägt. So viel versichern wir vor der Hand, daß über diese vierte Symphonie die erste keineswegs vergessen werden kann.[5]

Im November 1835 weilte Kalliwoda in Leipzig und trat im Extrakonzert zum Benefiz des Leipziger Orchesterpensionsfonds am 23. November sowie im darauf folgenden regulären Gewandhauskonzert am 26. November auf. Ob auf Wunsch des Komponisten oder auf Betreiben des Orchesters sei dahingestellt, jedenfalls stand die vierte Sinfonie am 23. November erneut auf dem Programm, ohne jedoch große öffentliche Resonanz zu erregen. Schumanns Neue Zeitschrift für Musik verzichtete ganz auf eine Besprechung und gab kommentarlos nur das Konzertprogramm wieder[6], und die Allgemeine musikalische Zeitung beschränkte sich auf die knappe Bemerkung, dass im Konzert vom 23. November „Kalliwoda’s vierte Symphonie mit grossem Beifall sehr gelungen vorgetragen[7] wurde. 

Es ist erstaunlich, dass die Sinfonie trotz des im März geäußerten Interesses seitens der Kritiker und trotz der jetzt bezeugten positiven Aufnahme beim Publikum nunmehr wie ein altbekanntes Werk von der Musikpublizistik ad acta gelegt wurde; auch eine Rezension des Stimmdrucks ist weder in den beiden Leipziger Musikzeitschriften noch im von Tobias Haslinger in Wien verlegten Allgemeinen musikalischen Anzeiger oder in Ludwig Rellstabs Iris im Gebiete der Tonkunst erschienen, obwohl das Wiener Blatt anlässlich einer Rezension seiner dritten Sinfonie konstatiert hatte, dass Kalliwoda „vorzüglich als einer unserer geachtetsten Symphoniencomponisten bereits hinlänglich gekannt[8] sei, und der gefürchtete Berliner Kritiker Rellstab Kalliwodas zweite Sinfonie sehr positiv besprochen hatte.[9] Insgesamt kann dieser Sachverhalt als Beleg dafür gewertet werden, wie sehr in dieser Zeit die Leipziger Konzertlandschaft und ihr Widerhall in der ortsansässigen Musikpublizistik ausstrahlten auf die öffentliche Wahrnehmung von Neuheiten im Bereich der Instrumentalmusik in Metropolen wie Wien oder Berlin. 

Es kam im Leipziger Gewandhaus zu keiner weiteren Aufführung des Werkes, nur der ortsansässige Musikverein „Euterpe“ brachte sie am 3. Februar 1840 unter Leitung seines Musikdirektors Johannes Verhulst noch einmal zur Aufführung. Auch diesmal schwieg die Presse und nahm die Aufführung nur zu Notiz.[10] Doch gelegentlich erklang sie auch anderswo; so nahm sich die Königliche Kapelle in Berlin unter Leitung ihres Direktors Carl August Möser im März 1836 ihrer an; man fand sie dort „glänzend u. wirksam, nur etwas stark instrumentirt[11]. Im gleichen Jahr wurde sie in Jena zur Aufführung gebracht.[12]

Kalliwoda hat seine vierte Sinfonie der Philharmonic Society in London gewidmet – wohl auch in der Hoffnung, seinen Namen durch Aufführungen seiner Werke in London international bekannt zu machen. Doch zu einer öffentlichen Produktion seiner Sinfonie – wie überhaupt irgend eines Werkes von Kalliwoda[13] – durch die Philharmonic Society ist es nie gekommen. Wohl aber erklang sie zusammen mit seiner dritten Sinfonie im Februar 1838 im Rahmen einer nicht öffentlichen Probeaufführung. Diese exklusiven Veranstaltungen dienten den Verantwortlichen der Philharmonic Society als Entscheidungshilfe für die Gestaltung der Programme der öffentlichen Konzerte. Offenbar war auch ein Rezensent der Londoner Musikzeitschrift The Musical World zugelassen, denn diese brachte in ihrer Ausgabe vom 23. Februar 1838 einen recht ausführlichen Bericht über die Probeaufführungen. Der Rezensent vergleicht den Wert der beiden Sinfonien Kalliwodas, und sein Urteil fällt zugunsten der vierten Sinfonie aus:

Die beiden Sinfonien von Kalliwoda kontrastieren stark miteinander. Die erste [Nr. 3 d-Moll op. 32]  ist, wie seine frühen Ouvertüren, kindisch, schwach und ohne Wirkung. Das Motiv des ersten Satzes ist eigenartig und auf gewisse Weise extravagant; es wurde gelegentlich angeregt durch sein Kind im Säuglingsalter, das, auf seinen Knien sitzend, auf den Tasten des Klaviers zufällig diese Notenfolge drückte. Das Beispiel von Scarlatti und seiner Katze sowie elterliche Gefühle mögen dem Thema zusätzliche Bedeutung beigelegt haben, aber es muss erlaubt sein, unserem Bedauern darüber Ausdruck zu verleihen, dass so viel Mühe für einen so geringen Zweck aufgewandt wurde. Die zweite Sinfonie (op. 60) brachte eine erfreuliche Überraschung. Dieser Geniestreich ist in jeder Hinsicht eine meisterhafte Arbeit, und das Andante quillt über von Mozartischer Phrasenbildung, vorangetrieben von glühendem Gefühl, das unwiderstehlich den Geist jedes Musikers anspricht. Auch der erste Satz ist sehr raffiniert: Das Anfangsthema, als solches schon schön, wird sehr hübsch imitiert durch das erste Cello, und die Imitationen gerieten noch eindrucksvoller durch den großartigen Ton und die vollendete Ausführung des Altstars [Robert] Lindley.[14]

Diese Meinung scheint nicht vom Direktorium der Philharmonic Society geteilt worden zu sein; in der am 5. März 1838 beginnenden Saison wurden lediglich Sinfonien von Haydn, Mozart und Beethoven, die dritte und vierte Sinfonie von Louis Spohr sowie Mendelssohns „Italienische“ (in der Londoner Frühfassung) aufgeführt.[15]

Das Urteil des britischen Rezensenten blieb singulär; auf lange Sicht setzte sich vielmehr die von der Rezeption der Leipziger Uraufführung ausgehende ablehnende Haltung durch. In vielen biographischen Einträgen zu Kalliwoda wird das Werk nicht einmal erwähnt.[16] Eine gewisse Ausnahme bildet lediglich der eingangs zitierte Hermann Kretzschmar, der in seinem Führer durch den Concertsaal für die auch ihm auffallende Sonderstellung der vierten Sinfonie innerhalb von Kalliwodas Œuvre eine Erklärung anbietet:

Die vierte Sinfonie (C moll) zeigt den Componisten in Formen und Gedanken wieder als einen ganz anderen. Ihrem erregten Wesen liegt vielleicht ein verschwiegenes Programm zu Grunde; namentlich das Finale, wo nach einem hoch leidenschaftlichen Eingang plötzlich das sinnende Andante wieder erscheint, legt diese Vermuthung nahe.[17]

Ob dem Werk tatsächlich ein „verschwiegenes Programm“ zu Grunde liegt, sei dahin gestellt; die Sonderstellung dieser Sinfonie wird aber von der neueren Forschungsliteratur ebenso bestätigt wie die ambivalente Beurteilung. David E. Fenske hebt im Vorwort zu seiner 1984 erschienenen Faksimile-Edition der Sinfonie hervor, dass die kontrapunktische Schreibweise, welche die zweite Sinfonie beherrscht habe, nicht mehr so offensichtlich sei, indem Kalliwoda nun auf fugierte Abschnitte und Kanons verzichte. Insgesamt sei das Werk in formaler Hinsicht, insbesondere in den beiden Mittelsätzen, subtiler gestaltet als die zweite Sinfonie.[18] László Strauß-Németh hingegen sieht als Ursache für das mangelnde Publikumsinteresse Kalliwodas „Unentschlossenheit“, der im Kopfsatz des Werkes zu konstatierenden Tendenz zur thematischen Verselbständigung der Bestandteile der Sonatenhauptsatzform durch vereinheitlichende Motivik (wie er es etwa in der dritten Sinfonie getan hatte) entgegen zu wirken: „Die Sinfonie zerfällt gerade im exponierten ersten Satz in Einzelteile [...].“[19]

Insgesamt wird man feststellen dürfen, dass Kalliwodas vierte Sinfonie, was Kopfsatz und Finale betrifft, nach Ausdehnung, Besetzung und Ausdruckscharakter sein ambitioniertestes sinfonisches Werk ist: Sie ist seine einzige Sinfonie, in der drei Posaunen (statt lediglich eine Bassposaune) verlangt wird. Ihr Kopfsatz ist der längste von allen seinen Sinfonien, allein die Langsame Einleitung umfasst 69 Takte. Und das Finale zeigt mit der Wiederaufnahme von thematischem Material aus dem Andante (T. 22-38) eine satzübergreifende Tendenz zur zyklischen Formbildung, die in seinen anderen Sinfonien nicht zu finden ist.

Die ungünstige Aufnahme, die das Werk bei Publikum und Kritik fand, hat Spuren im Werk Kalliwodas hinterlassen: Während er Ausdehnung und Anspruch seiner Sinfonien von der ersten bis zur vierten Sinfonie ständig steigerte, weist die 1840 uraufgeführte fünfte Sinfonie eine deutliche Tendenz zur Zurücknahme auf: Kalliwoda kehrt wieder zur Besetzung mit nur einer Posaune zurück, der Kopfsatz ist in Themenbildung und Satztechnik wesentlich anspruchsloser und der Langsame Satz prägt bedeutend stärker den Charakter eines eleganten Intermezzos aus. All diese Eigenschaften mögen dem Werk jene „Zärte“ verliehen haben, die Robert Schumann so sehr an ihr lobte.

Bert Hagels

[1] Vgl. László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda und die Musik am Hof von Donaueschingen, 2 Bde., Hildesheim, Zürich, New York, 2005, Bd. 2, S. 56.

[2] Der bei C. F. Peters verlegte Stimmdruck ist in Hofmeisters Literarisch-musikalischem Monatsbericht angezeigt für März/April 1835; als Tonart ist übrigens c-Moll angegeben; als Faksimile online verfügbar unter: http://www.hofmeister.rhul.ac.uk/2008/index.html.

[3] Seine dritte Sinfonie war ein halbes Jahr zuvor, am 2. Februar 1832, erstmalig in Leipzig erklungen, und etwa gleichzeitig bei C.F. Peters als Stimmdruck erschienen. Sie konnte also im Oktober nicht mehr als neu gelten. Kalliwoda verzichtete darauf, in seinem Konzert am 15. Oktober 1832 und in dem darauf folgenden regulären Gewandhauskonzert am 18. Oktober, in dem er mitwirkte, eine Sinfonie zu präsentieren; an Werken für großes Orchester stellte er zwei neue Ouvertüren vor.

[4] „Leipzig, am 19. März“, in: AmZ XXXVII (1835), Sp. 235-238; hier Sp. 237f.

[5] „Vermischtes [...] (53)“, in: NZfM 2 (1835), S. 94; Verfasser dieser redaktionellen Notiz dürfte Schumann persönlich gewesen sein.

[6] Vgl. „Chronik“, in: NZfM 3 (1835), S. 184.

[7] „Leipzig“, in: AmZ XXXVII (1835), Sp. 851-854; hier Sp. 853.

[8]Troisième Sinfonie à grand Orchestre, composée par I. W. Kaliwoda. Oeuv. 32. Leipsic au Bureau de Musique de C. F. Peters. Pr. 4 Thlr“, in: Allgemeiner musikalischer Anzeiger 4 (1832), S. 89-90, hier S. 89.

[9] Ludwig Rellstab, „Seconde Sinfonie par J. W. Kalliwoda. Oeuv. 17“, in: Iris im Gebiete der Tonkunst 2 (1831), S. 89f.

[10] Vgl. „Leipzig“, in: AmZ XLII (1840), Sp. 185-187, hier Sp. 187; „Musikleben in Leipzig während des Winterhalbjahres 1839/40“, in: NZfM 12 (1840), S. 154-155, her S. 155.

[11] „Berlin, d. 8. April 1836“, in: AmZ XXXVIII (1836), Sp. 278-281; hier Sp. 279.

[12] „Jena“, in: AmZ XXXVIII (1836), Sp. 865-866, hier Sp. 865.

[13] Vgl. Myles Birket Foster, The History of the Philharmonic Society of London 1813-1912, London, New York, Toronto 1912, S. 562: Im Register der aufgeführten Komponisten taucht der Name Kalliwoda nicht auf.

[14] „The two symphonies by Kalliwoda are in strong contrast to each other. The first, like his early overtures, puerile, weak, and ineffective. The motivo of the first movement is curious, and certainly outré, and was suggested (as we understand by one of his pupils) from the circumstance of his infant child, whilst on his knee, accidently striking that succession of notes on the piano. The example of Scarlatti and his cat, together with the fine feelings of the parent, may have associated adventitious notions of the importance to the tema, but we must be allwed to express our regret, that so much labour should have been expended to so little purpose. The second symphony (Op. 60) proved a gratifying surprise. This colpo da maestro is, in every respect, a masterly production, and the andante abounds with a Mozartean phraseology, carried on with a fervid feeling, which appeals irresistibly to the mind of every musician. The first movement is also very clever: the opening subject, beautiful in itself, is very neatly imitated by the principle cello, and the imitations were rendered still more striking by the splendid tone and finished performance of the veteran Lindley.“ „Metropolitan Concerts“, in: The Musical World 8 (1838), S. 121-123; hier S. 121f.

[15] Vgl. die Auflistung der Konzertprogramme bei M. B. Foster, op. cit., S. 148-152.

[16] Vgl. László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 149.

[17] Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal. I. Abtheilung: Sinfonie und Suite, 2Leipzig 1891, S. 137f. , unverändert in der vierten Auflage, 4Leipzig 1913, S. 287.

[18]While the contrapuntal texture is still present, there is less use of obvious devices such as canons and fugues. [...] Formally, this symphony is more subtle, especially in the interior movements.“ David E. Fenske, „Introduction“, in: Barry S. Brooks (Hrsg.), The Symphony, 1720-1840, Series C, Volume XIII, New York, London 1984, S. xxxix-xlv; hier S. xlii.

[19] Vgl. László Strauß-Németh, Johann Wenzel Kalliwoda, a.a.O., Bd. 1, S. 149.

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