MUSICA OBLITA

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Fantasie d-Moll für großes Orchester op. 9 / NV 26

Unter der Nummer 26 und mit der Datierung „St Petersburg 26 Nov: / 9 Dec: 1806“ trug Neukomm die chronologisch zweite seiner vier in Russland entstandenen Fantaisies à grand Orchestre in sein handschriftliches Werkverzeichnis ein. Ob es vor Neukomms Rückkehr nach Mitteleuropa zu Aufführungen des Werkes in Russland kam, ist nicht bekannt. Jedenfalls führte er das Manuskript dieser und der anderen Fantasien mit sich, als er während seiner Reise nach Wien im Spätsommer 1808 einen Zwischenstopp in Leipzig einlegte, um mit dort ansässigen Verlegern über die Veröffentlichung seiner in Russland entstandenen Kompositionen zu verhandeln. Am schnellsten wurde Neukomm offenbar mit Ambrosius Kühnel, dem Inhaber des Bureau de Musique, handelseinig; dort erschienen in den ersten Monaten des Jahres 1809 seine opp. 8–10, neben der Fantasie d–Moll op. 9 / NV 26 ein Klarinettenquintett (B–Dur op. 8 / NV 44) und das Lied Schäfers Klagelied auf einen Text von Goethe (op. 10 / NV 31). Von Neukomms Orchesterfantasien ist op. 9 / NV 26 – obwohl der Entstehung nach die zweite – die erste, die im Druck erschien.[1] Offensichtlich war in Leipzig bereits die Absprache getroffen worden, die Fantasie Haydn zu widmen. Denn kurz nachdem Neukomm in Wien eingetroffen war, schrieb er am 15. November 1808 an den Leipziger Verlag: Von der Fantasie habe ich meinem lieben alten Vater gesagt – er freute sich sehr darüber, nun, meynt er, müßten wir mit der Herausgabe eilen, wenn er sie noch erleben sollte.[2] Diesem Wunsch ist offensichtlich willfahrt worden, denn der Verlag bestätigte Neukomm – offenbar auf Nachfrage – im Januar 1812, dass Haydn noch vor seinem am 31. Mai 1809 erfolgten Tod ein Dedikationsexemplar des Drucks erhalten habe.[3] Über das Honorar, das Neukomm für die drei durch Kühnel herauszubringenden Kompositionen erhalten sollte, war offenbar noch nicht verhandelt worden; vom Verlag danach befragt schützte Neukomm Haydns Rat vor, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen:

Um in Hinsicht auf die Bestim[m]ung des Honorars eine bestimmte Antwort geben zu können, habe ich meinen Vater Haydn gefragt was ich, ohne Übertreibung verlangen dürfte – aber der gute Papa scheint den Kauflohn für seine Schüler mit dem Maßstab des Meisters zu messen, und ich fühle gar wohl, daß der Verleger nur dann diese Forderung erfüllen kann, wenn der Name Haydn Käufer herbeylockt. Ich hoffe Sie werden es nicht unbillig finden, wenn ich […] für die Fantasie, das Quintetto und das Lied 100 Thaler in Gold nebst dem Dedikations–Exemplar, und meinen Manuskripten zurück verlange.[4]

Neukomm erhielt schließlich 250 Gulden[5], wobei nicht genau gesagt werden kann, wie sich dieser Betrag zu seiner Forderung von 100 Talern in Gold verhält, weil unklar ist, auf welche der vielen in den deutschen Staaten gebräuchlichen Goldtaler Neukomm sich bezieht. Legt man die gängige Umrechnung: 1 Taler in Gold (= Friedrich d’or, August d’or etc) = 5 Reichstaler = 7,5 Gulden zugrunde, so hätte Neukomm nur ein Drittel des von ihm geforderten Honorars erhalten.

Kühnel, im Besitz der Stichvorlage, nutzte die Gelegenheit, das Werk aufführen zu lassen, bevor es im Druck erschien. Am 8. Dezember erklang es im Leipziger Gewandhaus als erstes Stück im 10. Konzert der Saison 1808/09. Die ortsansässige Allgemeine musikalische Zeitung zeigte sich ebenso überzeugt von der neuen Gattung und ihrer Realisierung durch Neukomm wie von Neukomms musikalischer Persönlichkeit überhaupt. Verfasser ist vermutlich der Herausgeber der Zeitschrift, Friedrich Rochlitz (1769–1842):

Einen neuen und sehr würdigen Weg zur Bereicherung und weitern Ausbildung der Instrumentalmusik hat ein noch junger Künstler von ausgezeichnetem Talent und ausgebreiteten Kenntnissen – hat Hr. Kapellm. Neukomm aus St. Petersburg, beyder Haydn Verwandter und Zögling, eingeschlagen, indem er grosse Phantasieen für das vollstimmige Orchester geschrieben hat, deren erste so eben erschienen und hier mit grossem Beyfall aufgenommen worden ist. Dass dieser Mann, der – wenn uns nicht alles trügt, gar bald unter den jetzigen Komponisten einer der Lieblinge aller derer seyn wird, die für wahrhaft edle und grosse Werke der Tonkunst empfänglich sind – dass dieser Mann, nachdem er die Schule jener beyden Meister genossen, ruhig und in der Stille den Gesang und die Poesie aller für die Kunst bedeutenden Nationen mit grösster Ausdauer studirte; dass er seine ziemlich zahlreichen, bey den öffentlichen Aufführungen in Petersburg mit grosser Auszeichnung aufgenommenen Werke dennoch zurückhielt, bis er jetzt, auf anhaltende Anregung J. Haydns und aller Kenner der Musik in Deutschland, die ihn auf seiner jetzigen Reise kennen gelernt, mit Werken hervortreten konnte, die wol jeder der geübtesten Meister gern geschrieben haben möchte: schon das entscheidet für keinen gewöhnlichen Geist und Sinn, für keinen gewöhnlichen Musiker. Auch Referent erfreute sich während des hiesigen Aufenthaltes des Hrn. N.[eukomm] im letzten Sommer, seiner nähern Bekanntschaft und wiederholet aus voller Ueberzeugung und mit Vergnügen öffentlich, was er ihm, kaum persönlich zu sagen vermochte: dass er seine vier grossen Phantasieen für das Orchester, seine herrliche Kantate, Circe, (nach J. B. Rousseaus Gedicht,) [NV 28; unveröf­fentlicht] mehrere Stücke seiner grossen Oper, Alexander [Alexander am Indus NV 8 und NV 13; unveröffentlicht], und seine Musik zu Schillers Braut von Messina [NV 15; unveröffentlicht] unter das Grösste, Gründlichste, und in seiner Art Vollendetste rechnet, was seit einer beträchtlichen Reihe von Jahren geschrieben worden ist. Vielleicht hängt Hr. N.[eukomm] hin und wieder noch zu sehr am Einzelnen, grübelt allzu sehr, künstelt und putzt zuweilen gar zu sorglich: das ist aber auch das Einzige, woran Ref. ihn bey den genannten Werken zu erinnern wünschte, was sich aber, bey längerer Beobachtung der Würkung seiner Musik, von selbst verlieren wird. An jener, bis jetzt noch allein erschienenen ersten Phantasie wird kein Kunstverständiger die originelle Ansicht, den kühnen Entwurf des Ganzen, die bewundernswerthe Festigkeit und Stetigkeit der Ausführung, und die seltene Mannichfaltigkeit und Anmuth bey grösster Einheit und wahrer Gelehrsamkeit, verkennen; und auch jedes gemischte Publikum, das beym Genusse nicht reflektirt, sondern sich blos aufmerksam dem Werke und seinem Eindruck hingiebt, wird – wie das hier in Leipzig der Fall war – davon ergriffen, emporgehoben und würdig erfreuet werden – ja, das um so mehr, je öfter man es hört. Das Werk wurde, so schwer es ist, vortrefflich gespielt.[6]

Das Werk sprach so sehr an, dass es gleich im nächsten Konzert am 15. Dezember 1808 wiederholt wurde.

Neukomm selbst veranstaltete nach seiner Ankunft in Wien ein Konzert, in dem neben Haydns von ihm bearbeiteten Oratorium „Il ritorno di Tobia“ auch eine seiner Orchesterfantasien erklang; und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass es sich dabei um jene Fantasie gehandelt hat, die er Haydn gewidmet hatte. Der Wiener Korrespondent der Allgemeinen musikalischen Zeitung schrieb über das Werk anlässlich des oben erwähnten Konzerts vom 22. Dezember 1808:

Vorher aber gab uns Hr. Neukomm, ein Schüler Haydn’s, der erst kürzlich von Petersburg zurückgekommen ist, eine Fantaisie für das ganze Orchester; [sic!] zu hören. So sonderbar es auch scheint: eine Fantaisie für das ganze Orchester, so angenehm hat er uns doch damit überrascht und so anziehend unterhalten – zumal da sie, von Seiten des Orchesters, unter des Komponisten Direktion, mit einer Kraft und Präcision ausgeführt wurde, wie man es hier zu hören eben nicht gewohnt ist.[7]

In der Folgezeit wurde Neukomms d–Moll–Fantasie vor allem in Leipzig zum Repertoirestück; bis 1833 erklang sie mindestens zwölf Mal in einem der Gewandhauskonzerte, freilich in absteigender Häufigkeit: allein neun Mal bis 1820, dann noch drei Mal bis 1833. Bei zwei weiteren Daten (29.01.1818; 17.01.1837[8], letzteres ein Konzert des Orchestervereins Euterpe) ist ungeklärt, ob es sich um die vorliegende Fantasie, um op. 11 / NV 25 oder um op. 27 / NV 37 handelt. Neukomms Fantasien verloren im Zuge der Rezeption der Symphonien Beethovens und im unmittelbaren Vergleich mit diesen allmählich an Anziehungskraft. Als im ersten Teil des Gewandhauskonzerts vom 16. Dezember 1819 Beethovens Pastoral–Symphonie und im zweiten Neukomms Fantasie erklang, setzte der Rezensent Amadeus Wendt beide Werke über die Implikationen des Gattungsbegriffs von Neukomms Werk miteinander in Bezie­hung:

Der zweyte Theil dieses Concerts begann mit Neukomms Phantasie für das ganze Orchester. Sie wurde mit noch grösserer Präcision ausgeführt, als die vorhin genannte Pastoral–Symphonie. Die meisten Symphonien Beethovens sind wahre Phantasien, ohne es zu heissen, in Neukomms Werken, dieses Nahmens dagegen scheint der Gedankengang schon zu regelmässig, als dass es dem Geiste nach Phantasie heissen könnte.[9]

Als indes in der Saison 1824/25 Seyfrieds Orchesterfantasie f–Moll nach Mozart und Neukomms d–Moll–Fantasie zu einem direkten Vergleich einluden,[10] fiel dieser zum Vorteil von Neukomms Werk aus, wie der Leipziger Korrespondent von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände festhält:

In den [...] Konzerten wurden [...] auch zuerst eine von Seyfried arrangirte Phantasie von Mozart (F moll) aufgeführt. So geschickt dieses Arrangement gemacht ist, so macht doch das Ganze keinen solchen Orchestereffekt, wie die auch kürzlich gegebene Phantasie für das Orchester von Neukomm (Nro. 1).[11]

Wie kurzlebig gelegentlich das Gedächtnis der beteiligten Zeitgenossen sein konnte, vermag folgende Episode zu verdeutlichen: Am 4. November 1856 erklang in einem Konzert des Leipziger Orchestervereins Euterpe unter der Leitung von Hermann Langer eine Orchesterfantasie, laut Ankündigung „von J. Haydn, nach einem Manuscript zum erstenmale aufgeführt“, wobei die Redaktion der berichtenden Zeitschrift Signale für die musikalische Welt gleich richtig stellt: „Hinsichtlich der ‚nach einem Manuscript zum ersten Mal aufgeführten Fantasie von Haydn’ befindet sich die Direction der Euterpe in einem Irrthum, denn die zu Gehör gebrachte Fantasie ist ein altes gedrucktes Werk von Neukomm.[12] Die Aufführung scheint jedoch erfolgreich für das Stück geworben zu haben, denn eine Woche später veröffentlichte der Verlag C. F. Peters (als Rechtsnachfolger des Originalverlegers Kühnel) eine großformatige Einzelanzeige: „Für Concert–Directionen. Bei Unterzeichnetem ist erschienen: Fantaisie à grand Orchestre composée et dédiée à J. Haydn par Sigismond Neukomm. Op. 9. Dieses schöne Werk wurde kürzlich hierselbst (irrthümlich als eine ‚ungedruckte Composition Haydn’s’ bezeichnet) mit allgemeinem Beifall aufgeführt. Leipzig, November 1856. C. F. Peters, Bureau de Musique.[13]

Gelegentlich lassen sich auch Aufführungen in anderen Städten nachweisen; so war es bereits im ersten Halbjahr 1811 zur Aufführung einer Fantasie Neukomms in St. Petersburg gekommen,[14] wobei es sich nur um die bis dahin einzige im Druck erschienene d–Moll–Fantasie handeln kann. Bei einer Aufführung in Riga am 27. De­zember 1813[15] könnte es sich um op. 9 / NV 26 oder um op. 11 / NV 25 gehandelt haben, genauso wie im Februar 1817 in Stockholm.[16] In Frankfurt/Main erklang am 8. November 1826 in einem Konzert des Museums eine Fantasie von Neukomm;[17] dafür kämen nun alle drei veröffentlichten Fantasien in Frage. In Magdeburg wurde in den letzten Monaten des Jahrs 1825 aber unzweifelhaft die d–Moll–Fantasie aufgeführt,[18] so dass das Werk bei einer erneuten Aufführung in der Saison 1830/31 als bekannt galt.[19]

Innerhalb der vier Orchesterfantasien Fantasien Neukomms nimmt die d-Moll-Fantasie in formaler Hinsicht eine Sonderstellung ein. Während die anderen drei Werke aus einem ausgedehnten langsamem Einleitungsteil und einem thematisch mehr oder weniger mit diesem verbundenen geschwinden Teil in freier Sonatensatzform bestehen, blendet Neukomm in der vorliegenden Fantasie mehrere musikalische Formmodelle und Verfahrensweisen übereinander: Auch sie beginnt mit einem ausgedehnten Largo-Teil (der für sich genommen bereits eine vollständige Exposition mit Haupt- und Seitensatz darstellt), aber das folgende Presto wird zwei Mal durch ein siciliano-artiges, klagendes Larghetto im 6/8-Takt unterbrochen, das beim ersten Mal in der Subdominante g-Moll und beim zweiten Mal in der Grundtonart d-Moll steht. So ergibt sich der Eindruck, dass Neukomm in seinem einsätzigen Werk Elemente der Sonatenhauptsatzform mit Langsamer Einleitung (langsame Exposition), schnelle Exposition, Reprise und Coda mit einem mehrsätzigen Zyklus in der Satzfolge Langsam/Schnell – Langsam – Schnell – Langsam – Schnell vereinigt. Die Eigenständigkeit der beiden Larghetto-Teile wird durch ihre von den vorher erklingenden Teilen völlig unabhängige Thematik belegt; ihr Einbezug in den Ablauf der Sonatenhauptsatzform indes wird daran deutlich, dass die klagend abwärts gerichtete Melodielinie des Larghetto-Themas im durchführungsartigen Presto-Abschnitt, der zwischen beide Larghetto-Teile eingeschoben ist, in geradtaktiges Metrum versetzt und in erheblicher Temposteigerung durch verschiedene Sequenzen geführt wird. Das rhythmisch scharf konturierte unisono-Thema des Beginns, das an den formalen Nahtstellen die Komposition gliedert, ist ein frühes Beispiel für die Kunst, wiedererkennbaren thematischen Gestalten durch Wechsel von Harmonisierung oder Instrumentation einen gänzlich unterschiedlichen emotionalen Charakter zu verleihen: Aus dem düster-pathetischen Anfangsthema wird zeitweise eine Art jubelnder Hymnus. Das ist Thementransformation avant la lettre.

Neukomms Gattungskonstitution – die Fantasie für großes Orchester – kam schon bald zu lexikalischen Würden; unter dem Lemma „Neukomm“ wurden in damaligen Konversationslexika die Fantasien als kennzeichnend für Personalstil des Komponisten angesehen. Bereits 1819 wird in Brockhaus’ Conversations–Lexicon unter Neukomms herausragende Kompositionen „seine große Phantasie für das ganze Orchester, ein eben so kühnes als sicher ausgeführtes Werk, wodurch er sich eine neue Gattung schuf“, gerechnet,[20] ein Indiz übrigens dafür, dass man in der nichtfachlichen Öffentlichkeit vor allem die erste Fantasie rezipierte. 

In späteren Lexika wurde die Angabe richtig gestellt, so 1833 in einem Taschen–Conversations–Lexicon, in dem zum Werk von „Neukomm (Sigismund), ein[em] schätzbaren Componist[en],“ konstatiert wird: „Sein Hauptwerk ist seine große Phantasie für das ganze Orchester, welchem später 3 andere folgten.[21] In zeitgenössischen Nachschlagewerken über Musik wurde regelmäßig unter dem Lemma „Fantasie“ auf die Werke Neukomms hingewiesen. In Gustav Schillings Universallexikon der Tonkunst ist 1835, nach der Unterscheidung von freier (= improvisierter) und gebundener (= notierter) Fantasie und der Feststellung, dass beide Arten von Fantasien in der Regel „nur für ein Instrument bestimmt“ seien, der Hinweis zu finden: „Neukomm jedoch stellte eine ganz neue und großartigere Gattung derselben auf in seinen voluminösen Fantasien für volles Orchester.[22] 

Ähnlich konstatiert August Gathy 1840 in der zweiten Auflage seines Musikalischen Conversations–Lexikons unter „Fantasie“ schlicht: „Eine neue Gattung musikalischer Komposition hat Neukomm aufgestellt in seinen großen und großartigen Fantasieen für volles Orchester.“[23] 

In späteren Jahren ging dieses Wissen verloren. Im 1870–79 (Ergänzungsband 1883) erschienenen zwölfbändigen Musikalischen Conversations–Lexikon von Hermann Mendel und August Reissmann kommt der Name Neukomm im entsprechenden Artikel nicht mehr vor.[24] Und in der frühen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Konzertführerliteratur findet man den vagen – und in seiner Charakterisierung des Werks nicht korrekten – Hinweis über Neukomms Werk, dass „namentlich seine Orchesterphantasie in D, eine zweisätzige Composition, in der das concertirende Element viel zur Geltung kommt, [...] sehr beliebt“ war.[25]

In der ästhetischen Diskussion hatte es Neukomms Gattungskonstitution nicht einfach, denn die Konnotation von Fantasie mit freiem Fluss von Gedanken oder Gefühlen schien eine Regellosigkeit und Willkürlichkeit zu implizieren, die den hochorganisierten Tonsatz für Orchester auszuschließen schien. Der Jenaer Altphilologe Ferdinand Hand (1786–1851), Verfasser einer erstmals 1837 und 1841 in zwei Bänden erschienenen Aesthetik der Tonkunst, wollte den Gattungsbegriff „Fantasie“ aus diesem Grund für den regellosen und freien Monolog eines Soloinstrumentes reserviert wissen, sozusagen eines lyrischen Ich, dessen Willkür durch satztechnische Rücksichten nicht begrenzt werden dürfe. Im Abschnitt „Phantasie“ schrieb er über Neukomms Werke der Gattung:

Auch für volles Orchester schrieb Neukomm Phantasieen. Allein wie sehr auch diese Compositionen in anderer Hinsicht gerühmt werden mögen, scheint doch der Namen unrichtig gewählt, indem die Phantasie, ein dichterischer Monolog, nur einen individuellen Charakter behauptet, der sich, wenn Selbständigkeit der Stimmen bewahrt werden soll, nicht auf ein vielstimmiges Orchester übertragen lässt.[26]

Neukomms Gattungskonstitution fand nur gelegentlich Nachahmer; so verfasste etwa Hermann Hirschbach (1812–88) eine 1847 im Klavierauszug erschienene Phantasie für Orchester d–Moll op. 27;[27] und der aus Breslau stammende Komponist Eduard Franck (1817–93), ein Privatschüler Felix Mendelssohn Bartholdys, komponierte eine im November 1848[28] erstmals aufgeführte und 1851 als Partitur veröffentlichte Phantasie für Orchester G–Dur op. 16.[29] Zu zahlreichen Orchesterfantasien kam es – nun freilich in der Regel mit programmatischen Titeln, wie schon Neukomms Dramatic Fantasia on some passages of Milton’s Paradise Lost – im Gefolge der Rezeption von Franz Liszts Symphonischen Dichtungen und der diese begründenden Ästhetik. Wie gründlich die Fantasie für Orchester in Vergessenheit geraten ist, wird durch die Tatsache belegt, dass sie im 1995 erschienenen dritten Band der Neuausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart im Artikel „Fantasie“ keine Erwähnung findet.[30]

Bert Hagels

[1] Die der Entstehung nach erste Fantasie (C–Dur op. 11 / NV 25) erschien im Herbst 1811 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig, die dritte Fantasie (c–Moll op. 27 / NV 37) erschien im Herbst 1821 ebendort, und die vierte (B–Dur NV 41) blieb ungedruckt. 

[2] Sigismund Neukomm an das Bureau de Musique in Leipzig, 15. November 1808; zitiert nach: Axel Beer, Das Leipziger Bureau de Musique (Hoffmeister & Kühnel, A. Kühnel). Geschichte und Verlagsproduktion (1800–1814), Tutzing, in Vorbereitung. Ich danke Herrn Axel Beer (Mainz) ganz herzlich für die Freundlichkeit, von seiner profunden Quellenkenntnis profitieren und aus seiner noch unveröffentlichten Arbeit zitieren zu dürfen.

[3] Bureau de Musique, Leipzig, an Neukomm, 14. Januar 1812; Hinweis nach Beer, op. cit.

[4] Neukomm an das Bureau de Musique, Leipzig, 25. Dezember 1808; zitiert nach Beer, op. cit.

[5] Angabe nach Beer, op. cit.

[6] „Konzert in Leipzig“, in: AmZ XI (1808/09), Sp. 199–208; hier Sp. 207–208.

[7] „Wien. (Uebersicht des Nov. u. Decbrs.)“, in: AmZ 11 (1808/09), Sp. 262–270; hier Sp. 269. Nebenbei bemerkt: Der 22.12.1808 war auch das Datum jenes denkwürdigen Konzerts, in dem Ludwig van Beethoven seine fünfte und sechste Sinfonie sowie die Chorfantasie op. 80 zur Uraufführung brachte; vgl. den gleichen Bericht in der AmZ, Sp. 267–269.

[8] Vgl. Bert Hagels, Konzerte in Leipzig 1779/80 bis 1847/48. Eine Statistik, Berlin 2009, CD–ROM, S. 649, 957.

[9] [Wendt, Amadeus:] Musikalische Berichte aus Leipzig, in: Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat IV (1820), Sp. 59–62; 73–76, 86–88; 92–96; 100f.; Zitat Sp. 93.

[10] Seyfrieds Mozart–Bearbeitung erklang am 20. Januar 1825, Neukomms Fantasie am 3. Februar.

[11] „Korrespondenz–Nachrichten. Leipzig, Ende Februars“, in: Morgenblatt für gebildete Stände 19 (1825), S. 271–272, hier S. 272.

[12] Signale für die musikalische Welt 14 (1856), S. 517.

[13] Signale für die musikalische Welt 14 (1856), S. 527; die gleiche Anzeige erschien auch in der Neuen Zeitschrift für Musik 45 (1856), S. 223; dort war über das Euterpe–Konzert kurz berichtet, aber der Irrtum nicht richtig gestellt worden (vgl. op. cit., S. 211).

[14] Vgl. „Aus Petersburg“, in: Zeitung für die elegante Welt 11 (1811), Sp. 942–944; hier Sp. 942.

[15] Rigaische Stadtblätter für das Jahr 1813, Riga 1813, S. 420.

[16] „Stockholm“, in: Allgemeine musikalische Zeitung XIX (1817), Sp. 599–602, hier Sp. 601.

[17] Vgl. „Museum am 8. November 1826“, in: Iris. Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen und Nützlichen 9 (1826), S. 876.

[18] Vgl. „Aus Magdeburg, Anfang Januar“, in: AmZ XXVIII (1826), Sp. 251–255; hier Sp. 254.

[19] „Magdeburg“, in: AmZ XXXIII (1831), Sp. 486–489; hier Sp. 488.

[20] Allgemeine deutsche Real–Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations–Lexicon), 10 Bde., Band 6, 5Leipzig 1819, S. 821–822; Zitat S. 822; auch 6Leipzig 1824, S. 801.

[21] Taschen–Conversations–Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch zum Behufe der Conversation und Lektüre für alle Stände, Bd. 16: Von Musik bis Northumberland, Augsburg 1833, S. 246.

[22] Art. „Fantasie“, in: Gustav Schilling (Hrsg.), Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal–Lexicon der Tonkunst, Bd. 2, Stuttgart 1835, S. 652–655; hier S. 654.

[23] Art. „Fantasie“, in: August Gathy (Hrsg.), Musikalisches Conversations–Lexikon. Encyklopädie der gesammten Musik–Wissenschaft, Hamburg 1840, S. 121.

[24] Art. „Phantasie“, in: Hermann Mendel / August Reissmann (Hrsg.), Musikalisches Conversations–Lexikon. Eine Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften. Für Gebildete aller Stände, Bd. 8, Berlin 1877, S. 72.

[25] Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal. I. Abtheilung: Sinfonie und Suite, 2Leipzig 1891, S. 125. Kretzschmar verwechselt offensichtlich die Fantasie op. 9 / NV 26 mit der als zweites erschienenen Fantasie op. 11 / NV 25, denn diese besteht aus einem ausgedehnten langsamen Einleitungsteil und einem sonatenartigen Allegro–Teil, und vornehmlich im Einleitungsteil gibt es zahlreiche solistisch–konzertierende Passagen von Holzbläsern und Solo–Violoncello.

[26] Ferdinand Hand, Aesthetik der Tonkunst, 2 Bde., 2Leipzig 1847 [1Jena 1837 und 1841], Bd. 2, S. 301.

[27] Robert Pessenlehner, Herrmann Hirschbach. Der Kritiker und Künstler. Ein Beitrag zur Geschichte des Schumannkreises und der musikalischen Kritik in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, Regensburg 1932, S. 398f. Es handelt sich um eine in vier mit programmatischen Titeln versehene Abschnitte gegliederte Komposition: Heraustritt in die Natur Innere Stimme Von fern herüber Beim Sonnenuntergang. Eine kurze Beschreibung des Werks in: Pessenlehner, op. cit., S. 442f. Eine von Alfred Dörffel verfasste Rezension findet sich in: Neue Zeitschrift für Musik 27 (1847), S. 230f.

[28] Konzertberichte in: Neue Berliner Musikzeitung 2 (1848), S. 331; und Neue Zeitschrift für Musik 30 (1849), S. 50.

[29] Nähere Angaben zum Werk bei: Paul Feuchte / Andreas Feuchte, Die Komponisten Eduard Franck und Richard Franck. Leben und Werk, Dokumente, Quellen, Stuttgart und Hamburg 1993, S. 74. Eine zeitgenössische Rezension der gedruckten Partitur findet sich in: Neue Zeitschrift für Musik 34 (1851), S. 181–186.

[30] Dagmar Teepe, Art. „Fantasie“, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite neubearbeitete Ausgabe. Sachteil, Bd. 3, Kassel usw. 1995, Sp. 316–341; im Abschnitt 19. und 20. Jahrhundert verweist die Autorin für das 19. Jahrhundert, für das sie ansonsten ausschließlich die Fantasie für Klavier erwähnt, allein auf Max Bruchs Fantasie für Violine mit Orchester und Harfe [...] op. 47. Selbst ein Hinweis auf heute noch im Konzertrepertoire befindlichen Orchesterfantasien des späteren 19. Jahrhunderts, etwa von Čajkovskij (opp. 18, 32), fehlt.

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