MUSICA OBLITA

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Sinfonie héroïque D-Dur op. 19 / NV deest

Neukomms Sinfonie héroïque D-Dur op. 19 entstand ausweislich der Datierung am Schluss der autographen Partitur 1817 in Rio de Janeiro. Der Komponist trug sie nicht in sein Werkverzeichnis ein, das er ansonsten penibel führte, und in das er weder seine Aufenthaltsorte noch die verschiedenen Bearbeitungen und späteren Zusätze zu seinen Kompositionen aufzunehmen vergaß. 

So ist der Verdacht, bei der Sinfonie héroïque D-Dur könne es sich um ein unterschobenes Werk handeln, nicht von der Hand zu weisen. Doch die überlieferte handschriftliche Partitur ist eindeutig von Neukomms Hand, ebenso die Datierung und die Signatur. Andere handschriftliche Quellen gibt es nicht. 

Eine mögliche Erklärung für die Nichtaufnahme der Sinfonie in sein Werkverzeichnis könnte darin liegen, dass Neukomm die autographe Partitur unmittelbar nach Fertigstellung nach Europa schickte und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit keine Abschrift anfertigte oder anfertigen ließ, die er bei sich behielt, so dass ihm bei der Abfassung des Werkverzeichnisses die Existenz der Sinfonie nicht mehr präsent war. 

Der zeitliche Ablauf der Drucklegung legt jedenfalls nahe, dass Neukomm die Partitur unmittelbar nach Abschluss der Komposition an den Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig gesandt hat: Dieser kündigte bereits im Februar 1818 das Erscheinen einer neuen Sinfonie Neukomms an[1], erneuerte die Ankündigung im Mai[2], und im Spätsommer dürfte der Druck fertig vorgelegen haben[3] – gerade rechtzeitig zur Leipziger Michaelis-Messe (Ende September bis Anfang Oktober), denn die Sinfonie wird im Katalog dieser Messe angezeigt.[4]

Die erste nachweisbare Aufführung fand am 22. Oktober 1818 im Leipziger Gewandhaus im vierten Abonnementskonzert der Saison 1818/19 statt, auf dem Programmzettel italienisch angekündigt als „Sinfonia eroica“, was das Leipziger Publikum sicherlich zu Vergleichen mit Beethovens dritter Sinfonie veranlasst haben dürfte. 

Ob Neukomm selbst mit dem Titel seiner Sinfonie die Konkurrenz zu Beethoven gesucht hat, dürfte mehr als fraglich sein; denn es ist unwahrscheinlich, dass er Beethovens Werk überhaupt kannte. Bis zum Sommer 1808 hatte er sich in Russland aufgehalten; den deutschsprachigen Bereich, in dem Beethovens Sinfonie bis dahin ausschließlich bekannt war, besuchte er lediglich in der zweiten Jahreshälfte 1808 bis Februar 1809; danach hielt er sich bis zu seiner Abreise nach Brasilien vornehmlich in Paris auf (s.o.), wo die säkulare Bedeutung von Beethovens Eroica erst ab 1828 durch die Veranstaltungen der Société des Concerts du Conservatoire ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde. Man wird also unterstellen dürfen, dass Neukomms heroische Sinfonie völlig unabhängig vom möglichen Vorbild Beethovens ist. Auf dem Titelblatt der autographen Partitur hebt er denn auch, wie er es gewöhnlich tat, hervor: „élève de Haydn“. 

Es ist verständlich, dass der Vergleich mit Beethoven, dessen Eroica dem Leipziger Publikum seit 1807 vertraut war und die mittlerweile einen festen Platz im Repertoire der Gewandhauskonzerte hatte, nicht zum Vorteil Neukomms ausfiel. Ein Rezensent der wie die Sinfonie von Breitkopf & Härtel verlegten Allgemeinen musikalischen Zeitung ließ sich anlässlich des oben genannten, mutmaßlichen Uraufführungskonzerts vom 22. Oktober 1818 nicht auf eine Besprechung des Werks ein, sondern verwies lediglich darauf, dass von der Sinfonie „wol in diesen Blättern ausführlicher die Rede seyn wird[5]. Eine Rezension oder auch nur eine ausführliche Konzertbesprechung des Werks erschien indes nie in der Allgemeinen musikalischen Zeitung

Als die Sinfonie in der nächsten Saison erneut aufgeführt wird (am 17. Februar 1820), lässt die Konzertdirektion – wohl kaum zufällig – den Zusatz „eroica“ bzw. „héroïque“ weg und kündigt das Werk schlicht als „Symphonie“ von Neukomm an.[6] Auch jetzt begnügt sich der Berichterstatter der Allgemeinen musikalischen Zeitung mit einer kurzen Charakteristik des Werks und weiß offenbar nicht, dass es bereits 17 Monate zuvor in Leipzig erklungen war:

Ganz neu und zum ersten Mal gegeben waren wohl nur die Symphonie von Neukomm [...]. Jene Symphonie ist nicht ohne Eigenthümlichkeit, solide gearbeitet und überhaupt zu loben: doch könnte man ihr mehr Phantasie und inneres Leben wünschen. In das Andante ist der Triumphmarsch aus Händels Judas Maccabäus glücklich eingewebt, und nimmt sich auch da gut aus.[7]

Besser informiert und mit deutlich schärferem Urteil berichtet der Philosoph und Musikkritiker Amadeus Wendt in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den Österreichischen Kaiserstaat über das gleiche Konzert:

Im siebzehnten Abonnements-Concert wurde zuerst eine Symphonie von S. Neukomm gegeben. Sie ist in der Härtelschen Musik-Handlung, wenn ich nicht irre, im vorigen Jahre erschienen, und wurde im Winter des vorigen Jahres zum ersten Mahle hier gegeben. Die Arbeit daran ist wohl gut; aber die Affection des ältern Styls ist darin auffallend, und der kalte Glanz ersetzt nicht das innere Feuer. Im Mittelsatze hat der Componist das berühmte Thema aus Händels Judas Maccabäus eingeflochten. Der letzte dünkt mich der ansprechendste und natürlichste.[8]

Weitere Aufführungen sind zur Zeit nicht nachweisbar, und man wird vermuten dürfen, dass das Werk bald in Vergessenheit geriet, zumal mit Neukomms 1823 wiederum bei Breitkopf & Härtel veröffentlichter Sinfonie Es-Dur op. 37 ein neueres sinfonisches Werk Neukomms zur Verfügung stand, das sich nicht dem (wie gezeigt, vermutlich unbeabsichtigten) Vergleich mit Beethoven aussetzte. Als kurioses Seitenstück zu Beethovens Eroica blieb Neukomms Sinfonie héroïque allerdings im Gedächtnis manches Musikhistorikers erhalten. So fand sie etwa in Hermann Kretzschmars einflussreichem Führer durch den Concertsaal vom Ende des 19. Jahrhunderts kurz Erwähnung; dass aber nurmehr ihr Titel bekannt war, wird daran deutlich, dass Kretzschmar das Händel-Zitat in ihren Schlusssatz verlegt.[9]

 

Bert Hagels

[1] Eine unspezifische Ankündigung als „Neukomm, nouv. Sinfonie à grd. Orch.“ erschien im Intelligenz-Blatt zur Allgemeinen musikalischen Zeitung No. II, Sp. 8, als Beilage zu AmZ XX (1820), Nr. 8 vom 25. Februar 1818. Möglicherweise war das Manuskript von Neukomm dem Verlag zum Zeitpunkt der Anzeige zwar angekündigt worden, aber noch nicht eingetroffen.

[2] Anzeige als „Neukomm, S. Sinfonie héroique à grd Orch. Op. 19“ zusammen mit einer „Marche triomphale à grd Orch. militaire“ im Intelligenz-Blatt zur Allgemeinen musikalischen Zeitung No. IV, Sp. 15, als Beilage zu AmZ XX (1820), Nr. 19 vom 13. Mai 1818.

[3] Eine weitere Verlagsanzeige erfolgte im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen vom 20. September 1818; möglicherweise ist dies der tatsächliche Zeitpunkt der Fertigstellung des Drucks.

[4] Allgemeines Bücher-Verzeichniß usw. Michaelismesse 1818, Leipzig 1818, S. 480.

[5] „Leipzig“, in: AmZ XXI (1819), Sp. 49-54; hier Sp. 49.

[6] Gedrucktes Programm des Abonnementkonzerts vom 17. Februar 1820, im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig; drei Exemplare vorhanden, mit den Signaturen: MT/2223/2006; MT/589/2002; MT/822/2002.

[7] „Leipzig“, in: AmZ XXII (1820), Sp. 257-260; hier Sp. 258.

[8] [Amadeus Wendt,] „Musikalische Berichte aus Leipzig“, in: Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den Österreichischen Kaiserstaat IV (1820), Sp. 234-240; hier Sp. 239. In seinem für Cottas Morgenblatt für gebildete Stände verfassten kursorischen Saisonüberblick erwähnt Wendt die Sinfonie Neukomms erst gar nicht; vgl. „Korrespondenz-Nachrichten. Leipzig, den 29. Februar“, in: Morgenblatt für gebildete Stände 14 (1820), S. 351-352.

[9] Vgl. Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal. I. Abtheilung: Sinfonie und Suite, 2Leipzig 1891, S. 125.

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