MUSICA OBLITA

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Sextett für Klavier, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass C-Dur op. 100 

Das 1820 erschienene Sextett für Klavier, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass C-Dur op. 100 wurde spätestens Anfang 1817 komponiert; denn am 18. April 1817 kündigt Ries gegenüber dem Musikkritiker William Ayrton an, er wolle sein „new Sestteo“ proben, um es im Rahmen der Konzerte der Philharmonic Society aufzuführen; letzteres geschah am 28. April 1817.

Der erste Satz dieses Werkes, Allegro con brio, modifiziert in ganz anderer Weise als im entsprechenden Satz von op. 74 die Sonatenform; denn in ihm geht es weniger um eine Verwischung der formalen Zäsuren, als vielmehr um eine Verunklarung des tonartlichenVerhältnisse in der Sonatenform. Das machtvoll im Tutti mit dem C-Dur-Akkord einsetzende Hauptthema wendet sich schon nach zwei Takten nach a-Moll, eine Tonart, die im regelgerecht auf der Dominante G-Dur einsetzenden Nachsatz des Hauptthemas sogar kadenziell befestigt wird; zwar wird in den folgenden kadenziellen Wendungen immer einmal wieder kurz C-Dur berührt; sie verharren aber grundsätzlich in der Mollparallele. Die Grundtonart wird erst in einem als regelmäßige Periode gebauten erneutem Tutti bestätigt, das die anfänglichen Akkorde wiederaufnimmt. Die danach einsetzende Überleitung führt zwar anfangs erwartungsgemäß über die Doppeldominante D-Dur zur Dominante G-Dur, weicht jedoch plötzlich einer lyrischen Passage, die zwischen As-Dur und b-Moll changiert. Eine nachfolgende Überleitungspassage mit Imitationen in den Streichern und nervöser Triolierung im Klavier bestätigt vorügergehend wiederum G-Dur, um in mächtigen Quintfallsequenzen erneut bis nach Es- und As-Dur zu modulieren; eine letzte vollständige Kadenz zur Dominante leitet dann endgültig zum Seitenthema über, das auch nur in seinen ersten acht Takten in der Dominanttonart verbleibt, um sich dann entfernteren Kreuztonarten (E-Dur, H-Dur) zuzuwenden. Derartige harmonische Freiheiten machen nun eine Schlussgruppe von nahezu 40 Takten erforderlich, um die Unregelmäßigkeiten durch ein tonal stabiles Gegengewicht auszugleichen. Angesichts dieser Disposition, die die Harmink in den Vordergrund stellt, ist es nur konsequent, dass die Durchführung weniger im klassischen Sinn Themenmaterial „durchführt“, sondern vielmehr tonale Flächen aneinanderreiht, auf denen einzelne vornehmlich Überleitung und Schlussgruppe enstammende Motive in neuer harmonischer Beleuchtung erscheinen: eine erste Fläche umkreist das Zentrum As, eine zweite, thematisch weit unspezifischere das Zentrum c. Die durch Material aus der Schlussgruppe eingeleitete Reprise bringt eine um das Tutti in der Tonika und die anschließende Überleitungsphase verkürzte Wiederholung der Exposition mit den regelgerechten Transpositionen. Aber auch in ihr wird der stark die Tonalität verunklarende Zug wirksam, indem z. B. der verbleibende Teil der Überleitung über 10 Takte in der Region von As-Dur und Es-Dur verharrt und die modulierende Tendenz des Seitenthemas.beibehalten bleibt. 

Das den Variationen im zweiten Satz zugrundeliegende Lied The last Rose of Summer scheint im zeitgenössischen London sehr beliebt gewesen zu sein; denn das Titelblatt des Erstdrucks nimmt ausdrücklich Bezug auf „the admired air“. Die dem Variationsthema vorausgehende, elftaktige Andante-Einleitung hat den Sinn, harmonisch zwischen dem C-Dur-Ende des ersten Satzes und dem A-Dur des Liedes zu vermitteln; sie beginnt in a-Moll und führt schrittweise zu einer doppoldominantischen Bekräftigung der neuen Dominante E-Dur. Das sechzehntaktige Thema wird dreimal variirt: einer figurativ Variationen folgt eine abrupt im ff einsetzende Charaktervariation in a-Moll, worauf die letze Variation in beschleunigtem Zeitmaß (Più vivace) den gemächlich heiteren Grundzug des Liedthemas wieder herstellt. Ein vierter, kaum noch als Variation zu bezeichnender Abschnitt führt den Kopf des Liedthemas unter Imitationen in den Streichern durchführungsartig durch mehrere Tonarten (fis, D, G, C, E), bevor eine sechstaktige unthematische Dominantfläche zur letzten Wiederholung des Liedthemas überleitet. 

Die fünftaktige Adagio-Einleitung vor Beginn des Final-Allegro hat ebenfalls den Sinn, verklungenen Satzschluss und neuen Satzanfang harmonisch miteinander zu vermitteln: sie leitet vom A-Dur des Variationssatzes über die Stationen a-Moll und dessen neapolitanischer Tonart B-Dur über zum Dominantseptakkord der Grundtonart des letzten Satzes C-Dur. Als ob diese Vermittlung noch nicht genügte, stellt Ries dem eigentlichen Hauptthema noch weitere 12 Takte voran, die den endlichen Eintritt des C-Dur mit harmonischen Schärfungen zum verminderten Septakkorden spannungsreich verzögern. Obwohl dieser Satz nicht mit Rondo überschrieben ist, ist sein formaler Grundriss nahezu identisch mit dem des Finale von op. 74; ein die Werkidee charakterisierende Abweichung stellt jedoch die Tatsache dar, dass das erste Couplet (bzw. das Seitenthema) in E-Dur steht, und das nicht etwa nach einer plötzlichen Rückung, sondern nach einer diesen Harmoniewechsel über 30 Takte vorbereitenden Überleitung; also ist auch in diesem Finale Ries‘ Bemühen festzustellen, das traditionelle Sonatenschema harmonisch zu bereichern. Nach der Wiederkehr des Refrain-Themas in der Grundtonart folgt – analog zum Siciliano-Teil im letzten Satz von op. 74 – ein im Tempo zurückgenommener Abschnitt (Poco più lento) in As-Dur, der durch eine lyrische Cellokantilene eingeleitet wird, in seinem späteren Verlauf aber durch unthematisch modulierende harmonische Flächen charakterisiert ist, die in eine 16taktige dominantische Vorbereitung der Hauptthemenreprise münden.

Bert Hagels

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