MUSICA OBLITA

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Sinfonie Nr. 4 F-Dur op. 110

Zu seinem Lehrer Beethoven hatte Ries immer eine eigenartige Beziehung, die geprägt war sowohl von Bewunderung als auch vom Willen zur Selbstbehauptung. Ries widmete Beethoven seine 1814 entstandene und 1818 im Druck erschienene Zweite Sinfonie; Beethoven gedachte, sich mit der Widmung der Diabelli-Variationen an Ries’ Gattin zu revanchieren. Dazu kam es jedoch nie, was möglicherweise mit der Tatsache zusammenhängt, dass Beethoven trotz mehrfacher brieflicher Aufforderung (zuletzt noch 1823) kein Widmungsexemplar des ihm dedizierten Werkes erhielt. Sollte Ries Scheu empfunden haben, sein Werk den strengen Augen Beethovens vorzulegen? Immerhin zog gerade diese Sinfonie in zeitgenössischen Rezensionen den Vorwurf auf sich, in einzelnen Passagen stark an die Eroica zu erinnern. Beethovens Urteil über Ries’ Musik fällt zwiespältig aus; einerseits soll er sich über dessen Klavierspiel und Kompositionen sehr anerkennend geäußert haben, andrerseits wird auch der Ausspruch überliefert, Ries „ahmt mich zu sehr nach.“[1]  

Ries seinerseits machte aus der vorbehaltlosen Bewunderung für seinen ehemaligen Lehrer kein Hehl; anlässlich einer von ihm geleiteten Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens schrieb er diesem am 9. Juni 1825: „Es ist ein Werk, dem man keines an die Seite setzen kann, und hätten Sie nichts wie das geschrieben, so hätten Sie sich unsterblich gemacht – wo werden Sie uns noch hinführen??[2] Die Bestürzung über die Neuartigkeit der „Neunten“ ist in der abschließenden Frage unverkennbar.

Die Ambivalenz von Beethoven-Nachfolge und Streben nach eigener Originalität verleugnet die 1818 in London komponierte Sinfonie Nr. 4 F-Dur op. 110 keineswegs. Ein zeitgenössischer Kritiker schrieb bündig und treffend, das Werk „verräth den Meister im Schüler und im Schüler den Meister[3]. Die triumphale Gestik des Hauptthemas des ersten Satzes ruft unwillkürlich den Anfang des Finale von Beethovens Fünfter in Erinnerung; das in sogenannter durchbrochener Arbeit taktweise zwischen verschiedenen Holzbläsern und erster Violine hin und her geworfene Thema der Überleitung zum Seitensatz gemahnt an entsprechende instrumentatorische Techniken im Kopfsatz von Beethovens Eroica; der wiegende Duktus des Andantino lässt an die Szene am Bach aus Beethovens Pastorale denken, und die verminderten Septakkorde mit nachschlagenden Bläsern in der Überleitung zum Seitensatz im Finale finden sich fast wörtlich auch im letzten Satz von Beethovens 4. Sinfonie. 

Andererseits ist unverkennbar, dass Ries eine Art Bilanz seiner bisherigen Entwicklung als Sinfoniker zieht. Aus seiner ersten Sinfonie übernimmt er die dissonant beginnende Einleitung. Das dissonante Intervall der fallenden verminderten Quinte, mit dem das Werk beginnt, hat aber, anders als früher, nun strukturelle Bedeutung für das folgende Allegro. Ebenfalls der ersten Sinfonie entstammt die allmähliche, in Instrumentation und Dynamik sich ständig steigernde Hinführung zum fortissimo-Ausbruch des Hauptthemas im ersten Satz, aus der 1813 komponierten, irritierend als Nr. 5 gezählten Sinfonie d-Moll op. 112 das Scherzo im 6/8-Takt, jetzt freilich mit ganz anders gelagerter Thematik. 

Eine weitere in seinen früheren Sinfonien erprobte formale Eigenheit ist das Anhängen einer im Tempo beschleunigten Coda im ersten und letzten Satz, eine Strategie zur Steigerung der Finalwirkung. 

Dass Ries im Finale indes wiederum auf den „Kehraus“-Typus in Sonatenrondoform zurückgreift, den er auch in den Sinfonien Nr. 1-3 verwandt hatte, macht ein besonderes Problem nachbeethovenschen Komponierens sinnfällig; Beethoven hatte seit der Eroica, seiner dritten Sinfonie, diesen Typus zugunsten eines dem jeweiligen Werkcharakter angepassten Finale aufgegeben. Im Finale seiner siebten Sinfonie hat Beethoven ihn sogar durch eine Art grimmiger Übertreibung persifliert und in der damals allerdings noch nicht komponierten Neunten durch ein monumentales Finale mit Chor und Solostimmen ersetzt. 

Ries dagegen kehrt zum vorbeethovenschen Typus zurück; ein später Rezensent bemerkte denn auch im Jahr 1848 anlässlich der Aufführung durch Spohr in Kassel im Finale dieser vierten Sinfonie „einen Mozartischen Anstrich.“[4] Gleichwohl wird eine Tendenz zur Überbietung des Beethovenschen Vorbildes schon allein in der Besetzung deutlich, die, wie es Beethoven bisher nur im Finale der Fünften Sinfonie getan hatte, das übliche Orchester um drei Posaunen und Kontrafagott erweitert.

Das Autograph der vierten Sinfonie ist verschollen; in einem eigenhändigen Werkverzeichnis gibt Ries das Jahr 1818 als Kompositionsdatum an. Über die näheren Umstände der Entstehung ist nichts bekannt; Ries ist in seinen Briefen sehr zurückhaltend mit Angaben zu seinem Schaffen. Veröffentlicht wurde sie als Stimmdruck und im Klavierauszug 1823 in Leipzig und gewidmet ist sie Louis Spohr, dem oben erwähnten Komponistenkollegen und Violinvirtuosen, den Ries 1820 für eine Saison nach London holte. Spohr schätzte Ries Sinfonien offenbar sehr: In seiner Eigenschaft als Kasseler Hofkapellmeister brachte er noch in den 1840er Jahren Sinfonien von Ries zur Aufführung, zu einer Zeit, als Ries’ Werke schon gänzlich der Vergessenheit anheim zu fallen drohten.

Bert Hagels

 

[1] Kerst, Friedrich (Hrsg.): Die Erinnerungen an Beethoven, 2 Bde., 2Stuttgart 1925 (1Stuttgart 1913), Bd. 1, S. 56.

[2] Ries, Ferdinand: Briefe und Dokumente, bearbeitet von Cecil Hill, 2 Bde., Bonn 1982, Bd. 1, S. 229.

[3] Aus Cassel, in: Neue Zeitschrift für Musik 28 (1848), S. 143.

[4] Ebd.

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