MUSICA OBLITA

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Konzert Nr. 4 c-Moll für Pianoforte und Orchester op. 115

Ferdinand Ries komponierte das hier vorliegende Konzert für Pianoforte und Orchester – ausweislich einer teilautographen Partiturabschrift, seines eigenhändigen Werkverzeichnisses sowie einer Angabe auf dem Titelblatt des im Besitz der Staatsbibliothek Berlin befindlichen Exemplars des Stimmdrucks – im Jahr 1809 in seiner Heimatstadt Bonn. Der Chronologie der Entstehung nach war es sein zweites Konzert für Pianoforte und Orchester (nach einem 1806 entstandenen Konzert in C-Dur, das 1824 als op. 123 publiziert wurde), veröffentlicht wurde es jedoch erst im Jahr 1823 als viertes Konzert. 

Der vollständige Stimmdruck erschien im noch sehr jungen Leipziger Verlag von Heinrich Albert Probst, sein Erscheinen wurde angezeigt im November 1823.[1] Auf dem Titelblatt dieses Drucks wird das Werk ohne Nummerierung nur als „Grand Concerto [...]. Oeuv. 115“ bezeichnet. Lediglich in der englischen Ausgabe von Birchall und der von ihr abhängigen von Sauer & Leidesdorf in Wien erscheint das Konzert als „Fourth Grand Concerto“ bzw. „Quatrième Grand Concert“. Die Ausgabe von Birchall, die unter dem 1. Mai 1823 in die britische Copyright-Registratur Stationers’ Hall eingetragen wurde, war, wie das Titelblatt nahe legt, ursprünglich als Stimmdruck geplant; erschienen ist aber nur die Pianoforte-Stimme[2], so dass der Druck von Probst die früheste (und da keine weiteren Stimmdrucke nachgewiesen sind, auch wohl einzige) gedruckte Quelle für das Konzert in Orchesterbesetzung darstellt.

Über Anlass und Umstände der Entstehung des Werkes ist nicht viel bekannt; jedoch ist die Entstehungszeit auf August bis Dezember 1809 einzuschränken, da Ries von Ende August 1808 bis Juli 1809 in Wien weilte und erst im August in Bonn eintraf.[3] 

Die Uraufführung fand wahrscheinlich am 15. Dezember 1810 in Bonn statt, im Rahmen eines von Ries gemeinsam mit seinem Vater Franz Anton veranstalteten Konzertes. In der Konzertanzeige ist zwar lediglich erwähnt: „Großes Klavierkonzert, vorgetragen von Ries Sohn[4], doch bis zum Dezember 1810 hatte Ries erst zwei Konzerte für Klavier geschrieben, und es darf angenommen werden, dass er dem Bonner Publikum sein neuestes Werk der Gattung präsentieren wollte und nicht das bereits drei Jahre zurückliegende Konzert in C-Dur. 

Ende 1810 brach Ries zu einer Reise auf, die ihn über Marburg, Kassel, Hamburg, Kopenhagen und Stockholm – an all diesen Orten verweilte er einige Zeit und trat öffentlich auf – nach St. Petersburg führte, wo er im August 1811 eintraf. Dort komponierte er in den verbleibenden Monaten des Jahres 1811 sein chronologisch drittes Konzert für Pianoforte und Orchester (Es-Dur op. 42). Da bis zu diesem Zeitpunkt das c-Moll-Werk seine aktuellste Konzertkomposition für Klavier und Orchester darstellte, ist anzunehmen, dass er sie während seiner Reise mehrfach zur Aufführung brachte; ganz sicher in Kassel, wo er sich die ersten beiden Monate des Jahrs 1811 aufhielt: Am 25. Januar spielte er im Rahmen eines von ihm veranstalteten Konzerts „ein Concert für das Pianoforte[5], und am 23. Februar präsentierte er ein „Neues Klavier-Concert (nach Manuskript)[6]; man wird annehmen dürfen, dass es sich im ersten Fall um das C-Dur-Konzert von 1806 handelt und im zweiten um das vorliegende Konzert. Der Kasseler Korrespondent der Allgemeinen musikalischen Zeitung zog das neuere dem älteren Werk vor: „Es hat noch bedeutendern Werth als das Erste, und wird jedem Klavierspieler (der es zu spielen im Stande ist), sobald es einmal öffentlich erscheint, ein angenehmes Geschenk sein.[7] Sogar das fachfremde Weimarer Journal des Luxus und der Moden berichtete, dass Ries in Kassel „ein höchst brillantes Conzert von seiner eignen Composition[8] gespielt habe (dabei handelt es sich um das erste Konzert), und dass das zweite „Conzert von seiner Composition [...] ganz herrlich[9] gewesen sei.

In Leipzig, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fraglos Mittelpunkt des deutschen Musikverlags und mit den Gewandhauskonzerten wichtigster Multiplikator für Instrumentalwerke in Orchesterbesetzung, erklang das Konzert erstmals am 29. Januar 1824, im 17. Abonnementkonzert der Saison 1823/24; Solistin war Mariane Wieck, geborene Tromlitz, die Mutter von Clara Wieck.[10] Seltsamerweise nahm die Leipziger Fachpresse keine Notiz von dem Konzert, weder von der Aufführung im Gewandhaus noch vom kurz zuvor erschienenen Stimmdruck.[11] Im Londoner Monthly magazine and British register erschien 1824 eine kurze Rezension des bei Birchall publizierten Klavierauszugs, mit gemischtem Tenor:

Der Charakter dieser Musik ist von zu gelehrter Natur, um beim breiten klavierspielenden Publikum beliebt zu sein; im ersten und im letzten Satz herrscht großer Mangel an Melodie, aber das Adagio ist auf eigentümliche Weise elegant, und es gibt so viele eindrucksvolle Passagen über das ganze Werk verteilt, das es des notwendigen Studiums wohl wert ist.[12]

In Ries’ Korrespondenz wird das Werk nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar in einem Brief vom 26. Juni 1830 aus Frankfurt an seinen in London lebenden Bruder Joseph; in dem Schreiben erscheint der bei Birchall erschienene Druck der Klavierstimme im Rahmen einer Liste von englischen Drucken eigener Werke, die Bruder Joseph ihm bei einem anstehenden Besuch mitbringen sollte, „weil ich so gern die Sammlung meiner eigenen Werke complet haben möchte.[13]

Widmungsträger des Konzerts ist Ries’ Pianisten- und Komponisten-Kollege Ignaz Moscheles (1794-1870), den Ries 1821 anlässlich von Moscheles’ erstem Aufenthalt in London kennen lernte; Moscheles hatte zuvor Ries’ cis-Moll-Konzert (op. 55) in Wien bekannt gemacht und war nun begierig, den Komponisten dieses Konzerts kennen zu lernen. Alsbald verband sie ein „dauerndes Freundschaftsband[14]. Moscheles ließ sich 1825, mithin ein Jahr nach Ries’ Rückkehr nach Deutschland, fest in London nieder; Ries war noch bei seinem letzten Besuch in London im Winter 1836/37 ein gern gesehener Gast im Hause Moscheles und stellte dem Kollegen am Klavier sein gerade fertig gewordenes Oratorium „Die Könige in Israel“ vor.[15]

Bert Hagels

[1] Im „Intelligenz-Blatt“ Nr. X, S. 39, des 25. Jahrgangs der Allgemeinen musikalischen Zeitung [im Folgenden: AmZ], ausgeliefert am 26. November 1823.

[2] Vgl. Cecil Hill, Ferdinand Ries. A Thematic Catalogue, Armidale/Australia 1977, S. 121.

[3] Aus Ries’ Zeit in Bonn vom August 1809 bis Ende 1810 ist nur ein einziger Brief (an den Verlag Artaria in Wien, gleich vom 10. August 1809) überliefert; vgl. Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, bearbeitet von Cecil Hill, Bonn 1982, S. 77f., sowie Hills „Einleitung“, op. cit. S. 25, 28.

[4] Anzeige im Wochenblatt des Bönnischen Bezirks, Nr. 149 vom 8. Dezember 1810 (nach freundlicher Mitteilung von Frau Barbara Mülhens-Molderings, M.A.); vgl. zum Bonner Kontext: Theodor Anton Henseler, Das musikalische Bonn im 19. Jahrhundert (= Bonner Geschichtsblätter Band XIII), Bonn 1959, S. 30.

[5] „Briefe über die Musik in Kassel. Vierter Brief“, in: AmZ 13 (1811), Sp. 401-408; hier Sp. 408.

[6] „Briefe über die Musik in Kassel. Fünfter Brief“, in: AmZ 13 (1811), Sp. 539-544; hier Sp. 540. Manuskript war das erst 1824 publizierte Konzert in C-Dur zu diesem Zeitpunkt freilich auch noch.

[7] Ebd.

[8] „Miscellen aus Cassel. Das diesjährige Carneval“, in: Journal des Luxus und der Moden 26 (1811), S. 151-158; hier S. 155.

[9] „Das diesjährige Carneval in Cassel. (Beschluß [...])“, in: Journal des Luxus und der Moden 26 (1811), S. 240-252; hier S. 251.

[10] Gedruckter Programmzettel im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Signatur: MT/770/2002; zur Identifizierung der Werke und Personen vgl. Bert Hagels, Konzerte in Leipzig 1779/80-1847/48. Eine Statistik, Berlin 2009, CD-ROM, S. 742.

[11] Im Bericht der Allgemeinen musikalischen Zeitung über die Saison 1823/24 findet Ries’ Werk keine Erwähnung;  allerdings werden die anderen Kompositionen dieses 17. Konzerts der Saison (Mozart, Prager Symphonie KV 504; Beethoven, „Prometheus“-Ouvertüre; Spohr, Szene mit Chor aus dem zweiten Akt von „Faust“, Arie von Nicolini) ebenso wenig erwähnt, möglicherweise hat der Rezensent dieses Konzert nicht besucht. Vgl. „Leipzig, am 26. Juny. Abonnement-Concerte von Michaelis 1823 bis Ostern 1824“, in: AmZ 25 (1823), Sp. 485-490.

[12]The character of the music is of too scientific a nature to become a favourite with the general amateur class of players; there is a great want of melody in the first and last movements, but the adagio is peculiarly elegant, and there are so many striking passages throughout the work, that it is well worth the necessary study.The monthly magazine and British register 58 (1824), S. 357-358.

[13] Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, bearbeitet von Cecil Hill, Bonn 1982, S.485-487; Zitat S. 486.

[14] Vgl. Charlotte Moscheles (Hrsg.), Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, 2 Bde.,  Leipzig 1872-73, Bd. 1, S. 53.

[15] Moscheles, op. cit., Bd. 2, S. 19.

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