MUSICA OBLITA

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Sinfonie Nr. 6 D-Dur op. 146

Über Anlass und Umstände der Entstehung der sechsten Sinfonie von Ries ist nichts bekannt. Das Autograph ist mit 1822 datiert, und die früheste bekannte Aufführung des Werks fand am 13. Juni 1822 in einem Konzert der Philharmonic Society in London statt. Ob dies die Uraufführung war, muss dahingestellt bleiben. 

Ein Ries offenbar sehr wohl gesonnener Londoner Korrespondent der in Leipzig erscheinenden Allgemeinen musikalischen Zeitung schrieb einen ausführlichen und nahezu enthusiastischen, mit Notenbeispielen versehenen Bericht über diese Aufführung[1], der nahe legt, dass das Werk zu diesem Zeitpunkt noch nicht „türkische Musik“ (Piccolo-Flöte, Triangel, Becken und Großer Trommel) im Finale enthielt, denn angesichts der damals schon sehr selten gewordenen Verwendung dieser Instrumente hätte der Korrespondent diese sicherlich erwähnt. Diese Vermutung wird bestätigt durch das Autograph, in dem die Instrumentierung des Finale nicht von der der ersten zwei Sätze abweicht, sowie durch einen Brief von Ries vom Juni 1826, den er schrieb, nachdem er, mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt, das Werk im Rahmen des Niederrheinischen Musikfestes in Düsseldorf zur Aufführung gebracht hatte: 

Ich habe das ganze Adagio, welches mich nie recht befriedigte, ganz neu komponiert und zum Finale Türkische Musik gesetzt, deren Effekt ganz außerordentlich ist.[2]  

Das Werk erschien gegen Ende 1827 in Stimmen[3] und im Herbst 1829 als Klavierauszug[4] in Leipzig im Druck.

Misstrauisch stimmt allerdings die Aussage, er habe den langsamen Satz „ganz neu komponiert“, denn die Fassungen des langsamen Satzes im Autograph und im fünf Jahre später erschienenen Stimmdruck sind identisch. Gleich lautend ist auch das in der erwähnten Konzertkritik aus London mitgeteilte Incipit des langsamen Satzes; er ist also in der Fassung bereits in London erklungen. Möglicherweise hat Ries für die Aufführung des Werkes anlässlich des Niederrheinischen Musikfestes tatsächlich ein neues „Adagio“ komponiert, dies aber für die Druckfassung wieder verworfen und gegen den älteren Satz ausgetauscht.

Anders als in seinen vorhergehenden Sinfonien geht Ries in der sechsten ganz neue Wege, indem er sich in mehrfacher Hinsicht auf vorklassische Muster bezieht, die nahezu als Abgrenzung vom Beethoven-Stil zu interpretieren sind, allerdings ohne die instrumentatorischen und stilistischen Mittel des zeitgenössischen Komponierens zu verleugnen: Gegenüber der vierten wird das Orchester um ein zweites Hörnerpaar erweitert. 

Der Kopfsatz bringt nach der langsamen Einleitung (welche die thematische Substanz des Kopfsatzes antizipiert) ein heiter-beschwingtes Allegro im 6/8-Takt, das formal auf Merkmale der älteren Sinfonik zurückgreift: Haupt- und Seitenthema sind identisch, und der Übergang von Durchführung zu Reprise wird mit jenem überraschenden Metrumwechsel im fortissimo gestaltet, der in der Exposition die Überleitung zum Erklingen des Themas auf der Dominante bildete. So wird eine Verschränkung von Durchführung und Reprise erreicht. Konsequenterweise verzichtet letztere auf die Wiederholung des vollständigen Hauptsatzes und bringt nur dessen ersten zehn Takte, um sogleich den Seitensatz anzuschließen; das formale Gleichgewicht indes wird durch die Wiederaufnahme des den Hauptsatz prägenden Orchester-Tutti am Schluss der Coda wieder hergestellt. 

Das Menuett kommt mit einer derart festlichen Pathetik daher, dass ihm schon im erwähnten Londoner Konzertbericht bescheinigt wurde, es erinnere in „Idee und Ausdruck vielleicht ein wenig an den grossen Händel[5]; das Trio stimmt einen heiter bukolischen Ton an. Und in der Menuett-Reprise kontrapunktieren Achtelläufe im solistisch besetzten Streicher-Bass die feierliche Melodik in den Holzbläsern. 

Der langsame Satz wird durch seine Umfunktionierung zu einer Art verlängerter Einleitung zum Finale in seinem Stellenwert zurückgestuft, wie überhaupt auffallend ist, dass Ries in keiner seiner Sinfonien ein großes Adagio komponiert hat (darin allerdings dem Beethoven der mittleren Periode folgend). Gleichwohl bildet der Satz eine vollständige Sonatenform aus (allerdings, wie es in zeitgenössischen lansamen Sätzen üblich war, ohne Durchführung) mit einem pausenzerrissenen und durch die unerwartet im G-Dur-Kontext einsetzende kleine Sexte es charakteristisch gefärbten Hauptthema und einem lyrisch sanglichen Seitenthema. 

Die größte Auffälligkeit des Werks besteht allerdings in der schon erwähnten Verwendung der „Türkischen Musik“ im Finale, ein exotischer Reiz, der ursprünglich in den 1780er Jahren vor allem in Wien die Mischung aus Schrecken und Faszination kompensierte, die in der unmittelbaren Nähe des Osmanischen Reiches empfunden wurde (1788 kam es tatsächlich zu militärischen Auseinandersetzungen). Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail ist das bekannteste Beispiel dafür. 

In die Sinfonik wurde der instrumentatorische Effekt von Haydn in dessen sogenannter Militär-Sinfonie Hob. I:100 (1794) eingeführt; einige Werke, etwa von Andreas Romberg (1767-1821; Sinfonie Nr. 4 C-Dur op. 51) oder von Friedrich Witt (1770-1836; Sinfonie Nr. 6 a-Moll), eiferten diesem Beispiel nach. In den 1820er Jahren war die „türkische Musik“ jedoch längst obsolet geworden, wenn Beethoven nicht im Finale der Neunten Sinfonie, freilich in ganz anderer Absicht und in untypischer Verwendung, darauf zurückgegriffen hätte. Nun hatte Ries gerade zum vorjährigen Niederrheinischen Musikfest, das 1825 in Aachen stattfand, Beethovens letzte Sinfonie aufgeführt. Was liegt da näher als der Gedanke, dass Ries - die Problematik seiner Final-Gestaltung in seinen bisherigen Sinfonien empfindend - durch die Verwendung der „türkischen Musik“ der Wirkung des Satzes aufzuhelfen trachtete? 

Auch formal geht Ries über das in seinen bisherigen Sinfonien Erreichte hinaus: der Finalsatz in Sonatenform wird durch eine – wiederum zum Presto beschleunigte - Coda beschlossen, die fast ein Drittel des ganzen Satzes umfasst, auf diese Weise gleichsam Abschluss und Krönung des ganzen Werkes.

Trotz all dieser Bedenken, die Erstaufführung der umgearbeiteten Fassung war ein großer Erfolg für Ries; er selbst berichtet seinem Bruder Joseph im schon erwähnten Brief vom  Juni 1826: 

Meine Sinfonie /: die letzte aus D dur :/ ist von allen Sachen, welche gegeben worden sind, am vorzüglichsten exekutiert und applaudiert worden. Schon nachdem ersten Allegro wurde ich 3 mal vom Publikum applaudiert und nach dem letzten Finale so unanim, daß es einigen Menschen besonders aufgefallen seyn muß.“[6]  

Alle überregionalen Musikzeitungen überboten sich in Lobeshymnen auf das Werk, in der Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung war von „grösster Schönheit und vollendeter Herrschaft aller Kunstmittel[7] die Rede, in der Leipziger von einem „an Melodieen und Harmonieen gleich reichhaltigen Werk[8] und der Rezensent der in Mainz erschienenden Caecilia sprach gar davon, dass es Ries gelungen sei, „die innere Bedeutung der Symphonie [als Gattung] klar zu machen“ und illustriert dies mit einem Goethe-Gedicht.[9] So lag es nahe, dass Ries in den vereinzelten Konzerten, die er in den folgenden Jahren gab, immer wieder, etwa während einer Konzertreise durch Deutschland in Frankfurt/Main[10], Leipzig[11] und Dresden[12], dieses Werk aufs Programm setzte.

Doch zum Schluss sei dem schon kurz zitierten Korrespondenten der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung etwas ausführlicher das Wort gegeben; er beschreibt kurz die Sinfonie als Ganze sowie die einzelnen Sätze, und macht deutlich, was das damalige Publikum von sogenannter ‚absoluter’ Musik erwartete: 

Anmuthige, melodienreiche Sätze wechseln mit den harmonisch kunstvollsten Gän­gen, das Ohr wird befriedigt und die Seele beschäftigt. Keine Breite, keine Dürre, kein falscher Effekt! - Froh und doch ernst das erste Allegro moderato. Dann gleich Menuetto und Trio, jenes etwas pensiv mit scherzenden Motiven, dieses die unschuldigste, schalkhafteste Freude, ganz Pastorale. Darauf ein köstliches Andante, voll Schmerz und Liebe, durchweht mit düstern Wolken und kraftvollen Aufflügen. Dies gilt mir für den Glanzpunkt des Werkes. Zuletzt ein bacchantisches Presto, das in seiner Derbheit dennoch Spuren der höchsten Vollendung trägt und eine Fest-Symphonie auf die alleransprechendste Weise beschliesst.[13]

Bert Hagels

 

[1] London, den 23sten August. Bericht über die diessjährigen philharmonischen Konzerte, in: Allgemeine musikalische Zeitung [im folgenden: AMZ] XXIV (1822), Sp. 651-660.

[2] Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, bearbeitet von Cecil Hill, Bonn 1982, S. 267.

[3] Das Erscheinen des Stimmdrucks ist angezeigt in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen vom 30. 12. 1827; Intelligenzblatt der AMZ vom Januar 1828.

[4] Anzeige in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen vom 18. 10. 1829.

[5] AMZ XXIV (1822), Sp. 653.

[6] Ries, op. cit., S. 267.

[7] Grosses Niederrheinisches Musikfest. Gefeiert in Düsseldorf den 14. und 15. Mai 1826, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung III [im Folgenden: BAMZ](1826), S. 222-225; Zitat S. 224.

[8] Das niederrheinische Musikfest, Pfingsten 1826, in: AMZ XXVIII (1826), Sp. 440-442; Zitat Sp. 442.

[9] Das Niederrheinische Musikfest 1826 in Düsseldorf, in: Caecilia 5 (1826), S. 61-76; Zitat S. 72.

[10] Frankfurt am Mayn, im December 1826, in: AMZ XXVIII (1826), Sp. 855-859.

[11] Nachrichten. Leipzig, vom 14. December bis zum 20. Januar, in: AMZ XXIX (1827), Sp. 105ff.

[12] Dresden. Januar und Februar 1827, in: AMZ XXIX (1827), Sp. 235-23

[13] BAMZ III (1826), S. 224.  

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