MUSICA OBLITA

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Konzert Nr. 9 für Pianoforte und Orchester g-Moll op. 177

Ferdinand Ries begann mit der Komposition seines letzten Klavierkonzerts vermutlich  spätestens im Laufe des Jahres 1831, und er vollendete das Werk zur Jahreswende 1832/33 in Rom. Im Druck erschien es als „Neuvième Concerto pour le Pianoforte“, in der Tat ist es aber – sowohl dem Fertigstellungs- als auch dem Erscheinungsdatum nach – sein achtes Klavierkonzert. Die irritierende Zählung resultiert aus Ries’ Eigenart, seine Instrumentalkonzerte unabhängig von der Beschaffenheit des Soloinstruments zu nummerieren; gemäß dieser Zählung ist sein erstes Konzert das Konzert für Violine (e-Moll op. 24), sein zweites Konzert das erste im Druck erschienene Konzert für Klavier (Es-Dur op. 42) etc.

Ries selbst gibt in seiner Korrespondenz zwei Hinweise zum Anlass der Komposition: Am 20. Dezember 1832 schrieb er aus Rom an den Berliner Verleger Traugott Trautwein, dass Trautweins Kollege Adolph Martin Schlesinger während seines (Ries’) letzten Aufenthalts in Berlin (Dezember 1830 bis Februar 1831) bei ihm ein Klavierkonzert bestellt habe.[1] Und am 20. September 1833 teilt  Ries dem Leipziger Verlag C. F. Peters mit, dass er das Konzert „schon seit einigen Jahren einem ungarischen Grafen versprochen habe, der die baldige Herausgabe wünscht und mir immer deswegen schreibt.[2] Der ungarische Graf ist der auf dem Titelblatt genannte Widmungsträger István [Stephan] Fáy (s.u.). 

Die Mitteilungen müssen einander nicht widersprechen; denkbar ist, dass Ries bereits vor seinem Berliner Aufenthalt 1830/31 mit de Fáy zusammentraf und diesem die Widmung eines Konzerts zusagte, und dann, als er (aus seiner Sicht) mit Schlesinger über die Publikation eines Klavierkonzerts handelseinig geworden war, die Möglichkeit sah, die Widmung an Fáy mit der Herausgabe bei Schlesinger zu verbinden. Jedenfalls darf vermutet werden, dass Ries spätestens nach der Publikationszusage Schlesingers (also ab Februar 1831) mit der Komposition begonnen hat; möglich wäre aber auch, dass der Kompositionsbeginn weiter zurückreicht, nämlich in jene (nicht näher bekannte) Zeit, als Ries István Fáy die Zusage gab, ihm ein Klavierkonzert zu widmen. Er wird aber kaum hinter die späten 1820er Jahre zurückreichen, da Fáy frühestens 1809 geboren wurde und kaum anzunehmen ist, dass Ries Kompositionsaufträge von Minderjährigen annahm. Und schließlich gibt das 1826 in Godesberg entstandene achte Klavierkonzert (As-Dur op. 151) einen sicheren terminus post quem.

Sicher ist auch, dass der Kompositionsprozess stockte, offenbar weil Schlesinger, wie Ries Trautwein im oben genannten Brief mitteilt, „mir einige Briefe unbeantwortet gelassen hat[3], und Ries sich nun der Möglichkeit einer unverzüglichen Veröffentlichung beraubt sah. Während seines Aufenthaltes in Rom (ab November 1832) besann er sich offensichtlich eines Besseren und setzte die Komposition fort; zum Zeitpunkt des Briefes an Trautwein (20. Dezember 1832) arbeitete er am letzten Satz; gleichzeitig bietet er Trautwein den Verlag des Konzerts zu einem aus seiner Sicht günstigen Preis an: „Für mein letztes [sc.: Konzert As-Dur op. 151] habe ich 36 Louis d’ors erhalten, für 30 steht es Ihnen zu Dienst.[4] Trautwein antwortet anscheinend nicht sogleich; mit Brief vom 21. Februar 1833 fasst Ries nach und teilt mit: „Das Concert ist fertig [...].“[5] Trautwein nahm das Konzert jedoch ebenso wenig an wie die Klaviersonate As-Dur op. 176, um die es in der Korrespondenz zwischen Ries und dem Verleger hauptsächlich ging.[6]

In der Folgezeit bot Ries das Konzert weiteren Verlegern an, so etwa mit Schreiben vom 10. Juli 1833 dem Wiener Tobias Haslinger; wie gegenüber Trautwein setzte er – unter Hinweis darauf, dass er für sein letztes Konzert 36 Louis d’ors erhalten habe – das Honorar auf 30 Louis d’ors fest.[7] Mit Brief vom 1. August 1833 bat Ries seinen in London lebenden Bruder Joseph, in der englischen Hauptstadt einen Verleger für England und Frankreich zu finden; er verlangt 15 Pfund Sterling für das Werk[8]; Joseph Ries scheint entweder untätig oder erfolglos gewesen zu sein. 

Dem Verlag C. F. Peters bietet Ries das Konzert im oben bereits erwähnten Schreiben vom 20. September 1833 an, erneut zum Preis von 30 Louis d’ors[9] – auch ohne Erfolg. Erst mit dem Leipziger Verleger Friedrich Kistner, der kurz zuvor das Unternehmen von Heinrich Albert Probst übernommen hatte, und dem Ries das Werk mit Brief vom 17. Oktober 1833 andiente[10], wurde er handelseinig; jetzt verlangte er nur mehr 25 Louis d’ors. 

Ende 1834 oder Anfang 1835 dürfte der Druck veröffentlicht worden sein; das jedenfalls legen die Platten-Nummern von Klavierstimme und Orchesterstimmen nahe.[11] Der zeitgenössischen Praxis entsprechend wurde die Pianoforte-Stimme des Stimmdrucks auch einzeln als Klavierauszug vertrieben; aus diesem Grund ist der Orchesterpart in der Pianoforte-Stimme an den Tutti-Stellen als Klavierauszug im Kleindruck hinzugefügt.

Der Widmungsträger Graf István Fáy (*1809/10 oder 1812; †1862) war ein Pianist und Musikschriftsteller, der sich primär der Erforschung und Herausgabe ungarischer Musik verschrieb; wann er Ries kennen lernte und warum er gerade Ries, dessen Bemühen um die ungarische Musik nicht über die gelegentliche Komposition von zeitgenössisch üblichen „All’ongharese“-Stücken hinausging, um die Widmung eines Klavierkonzerts bat, ist, wie gesagt, nicht bekannt. Fáy war ein Korrespondenzpartner von Franz Liszt und diente diesem als Gewährsmann für dessen Buch „Des Bohémiens et leur Musique en Hongrie“ (1859)[12]; zwischen 1857 und 1861 gab Fáy vier Hefte „Perlen der älteren ungarischen Musik mit einigen neuen Csárdás“ für Pianoforte zu vier Händen heraus.

Bereits am 1. April 1835 erschien in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung ein von deren Herausgeber Gottfried Wilhelm Fink verfasster Artikel, in dem Ries’ Konzert zusammen mit dem ersten Klavierkonzert op. 25 und dem Rondo brillant op. 29 von Felix Mendelssohn-Bartholdy rezensiert wird.[13] Bevor Fink mit der eigentlichen Werkrezension beginnt, vergleicht er die beiden Komponisten miteinander, nicht zum Nachteil von Ries:

Beide Männer sind verschieden; es soll auch so sein: die Gegenden und Empfänglichkeiten der Hörer sind es auch. Beide haben sich Freunde erworben und mit Recht, Jeder seiner Art gemäss. Beide verstehen zu instrumentiren; das weiss Jeder. Und nach den einzelnen Stimmen zu urtheilen, so weit man dies kann, dürfte eben das Orchester einen wesentlichen Reiz hinzubringen. [...] So hätte man denn an diesen Werken etwas Neues, theils noch nicht, theils doch nur sehr selten Gehörtes, von bedeutenden Männern und von verschiedener Art.[14]

Auch im direkten Vergleich der Werke schneidet das Konzert von Ries keineswegs schlecht ab, wenngleich Fink durch seine Wortwahl keinen Zweifel daran lässt, welchen Werken er den Vorzug gibt. Über Ries Konzert schreibt er:

No. 1 scheint uns sehr gut für ein gemischtes Publikum berechnet. Es greift nicht tiefer, als man es in einer solchen Versammlung liebt, und gibt anziehend, was man ohne Anstrengung leicht u.[nd] gern auffasst. Ernstes und Freundliches sind bestens gemischt und in guter Folge. Das bedingt schon, dass nicht Alles darin unerhört und völlig neu, vielmehr Manches auf Motive gebaut ist, die als umsichtig behandelte Anklänge interessiren. In dieser Art sind auch die Bravourpassagen, die mit schönen Melodieen wechseln oder beides zusammen verflechten. Die Gradation ist geschickt beachtet, so dass der letzte auf ein schönes Motiv gebaute Satz reich an Gesang und voller Effecte ist. Das Concert ist brillant und setzt nicht zu viel voraus. Allerdings verlangt es gewiegte Spieler, ist aber doch nicht zu schwierig.[15]

Der Tenor ließe sich dahin gehend zusammen fassen, dass Ries ein gut gemachtes Klavierkonzert komponiert habe, kommensurabel für das Publikum, nicht zu schwer für den Spieler, von gekonnter, aber nicht origineller Faktur. Dem gegenüber erscheint das Konzert Mendelssohns als das Werk eines Genies, wenn Fink unmittelbar anschließend fortfährt:

No. 2 berechnet gar nicht; es ist ein Musikstück, wie es der Geist dem Verf.[asser] zur Stunde auszusprechen gab. Es ist ein Charakterstück [...].[16]

In ähnlichem Sinne bespricht auch Robert Schumann das Werk ein Jahr später in der von ihm herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik. Es setzt ihn offenbar in Verlegenheit, einem Werk Meisterschaft zwar zubilligen, Originalität aber absprechen zu müssen:

Auch Napoleon verlor seine letzten Schlachten; aber Arcole und Wagram strahlen über. Ries hat ein Cis-Moll-Concert geschrieben und kann ruhig auf seinen Lorbeern schlafen. Was ist es aber, was in älteren, d. i. in älteren Mannesjahren geschriebenen Werken, trotz des Nachlasses der Phantasie und der Kunstnatur, wenn sie sich in ihnen zeigt, noch immer so wohlthut und beglückt? Es ist die Feier der Meisterschaft, die Ruhe nach Kampf und Sieg, wo man keinen mehr zu bestehn und zu erringen braucht. In diesem Sinne schließt sich dies neunte Concert seinen Vorgängern an. Wir treffen darin in keiner Hinsicht auf Vorschritte, weder des Componisten und noch weniger des Virtuosen. Dieselben Gedanken wie früher; ihr nämlicher Ausdruck; alles fest und unverrückbar, als könne es nicht anders sein; keine Note zu wenig; Guß des Ganzen, Harmonie, Grundidee, Musik. – Über solche Werke läßt sich so schwer und so wenig sprechen, wie über den blauen Himmel, der mir durch das Fenster hineinsieht, daher wir die Theilnehmenden, welche dies eben lesen, von demselben Auge angesehen wünschen, damit sie die Vergleichspuncte zwischen dem Concert eines alten Meisters und jener blauen ruhigwogenden Fläche so schnell treffen wie wir.[17]

Über zeitgenössische Aufführungen ist nichts bekannt. Da aber in der Regel Aufführungen von Solokonzerten auf Programmzetteln auch in den 1830er und 1840er Jahren noch zumeist unspezifisch als „Konzert für Pianoforte von Ries“, „Clavierconcert von Ries“ o.ä. angekündigt wurden, ist es wahrscheinlich, dass es gelegentlich aufgeführt wurde, wenn auch auszuschließen ist, dass es für irgendeinen Konzertveranstalter oder reisenden Pianovirtuosen zu einem Repertoirestück wurde.  Robert Schumann weist zu Recht darauf hin, dass zur Zeit der Publikation von Ries’ neuntem Konzert dessen Konzert Nr. 3 cis-Moll op. 55 (entstanden 1812, publiziert 1816) sein populärstes und meist gespieltes Werk für Pianoforte und Orchester war.
 

Bert Hagels

[1] Ferdinand Ries an Traugott Trautwein, Rom, 20. Dezember 1832, zitiert nach: Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, bearbeitet von Cecil Hill, Bonn 1982, S. 573.

[2] Ferdinand Ries an Carl Friedrich Peters, Frankfurt, 20. September 1833, in: Ferdinand Ries, op. cit., S. 602-603; hier S. 603.

[3] Ferdinand Ries an Traugott Trautwein, Rom, 20. Dezember 1832, zitiert nach: Ferdinand Ries, op. cit., S. 573.

[4] Ebd.

[5] Ferdinand Ries an Traugott Trautwein, Rom, 21. Februar 1833, zitiert nach: Ferdinand Ries, op. cit., S. 574.

[6] Vgl. Bert Hagels, „Vorwort“, in: Ferdinand Ries, Klaviersonaten IV, hrsg. von Bert Hages, 2Berlin 2008, S. IV.

[7] Vgl. Ferdinand Ries an Tobias Haslinger, Frankfurt, 10. Juli 1833, in: Ferdinand Ries, op. cit., S. 591.

[8] Vgl. Ferdinand Ries an Joseph Ries, Frankfurt, 1. August 1833, in: Ferdinand Ries, op. cit., S. 593-596, hier S. 595.

[9] Ferdinand Ries an Carl Friedrich Peters, Frankfurt, 20. September 1833, in: Ferdinand Ries, op. cit., S. 602-603; hier S. 603.

[10] Ferdinand Ries an Friedrich Kistner, Frankfurt, 17. Oktober 1833, in: Ferdinand Ries, op. cit., S. 607-609, hier S. 608.

[11] Anzeigen des Erscheinens sind bisher nicht gefunden worden. Einzugrenzen ist das Erscheinungsdatum aber, indem Anzeigen anderer Werke des Verlages [Probst-]Kistner in der Allgemeinen musikalischen Zeitung [im Folgenden: AmZ] in Beziehung gesetzt werden zu den fortlaufenden Platten-Nummern: Kistner kündigt im November 1834 das Erscheinen der opp. 48-50 von George Onslow an; diese Titel haben die Platten-Nummern 1058, 1059 und 1092, Ries Klavierkonzert die Nummern 1046 und 1052. Da es sich bei der Anzeige von Onslows Werken um eine Vorankündigung handelt, wird man annehmen dürfen, dass die Werke im Laufe der folgenden Monate erschienen sind. Die Nummern von Ries’ Klavierkonzert liegen kurz vor denen der Onslowschen Werke; man wird also unterstellen dürfen, dass das Werk von Ries in etwa zur selben Zeit oder kurz davor erschien. Ein terminus ante quem ist durch das Erscheinen einer Rezension des Drucks in der AmZ vom 1. April 1835 gegeben.

[12] Vgl. Alan Walker, Franz Liszt, Volume one: The Virtuoso Years 1811-1847, revised edition, Ithaca/NewYork 1987 [First edition 1983], S. 338 und Fußn. 39.

[13] Gottfried Wilhelm Fink, „Concertmusik für das Pianoforte“, in: AmZ XXXVII (1835), Sp. 209-212.

[14] Op. cit., Sp. 210.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] [Robert Schumann:] „Pianoforte. Concerte“, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), Nr. 27, 1. April 1836, S. 113-116; hier S. 114; zur Interpretation der Rezension von Schumann vgl. auch Michael Schwalb, Basislager kompositorischer Gipfelbesteigung. Ferdinand Ries als selbstverhinderter Romantiker / Base Camp for the Compositional Summit Ascent - Ferdinand Ries as a Romantic Manqué by Choice, in: Über / About Ries Vol. I, Berlin 2012, S. 9-34; hier S. 27ff.

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