MUSICA OBLITA

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Sonate für Pianoforte D-Dur op. 9, Nr. 1

Nachdem Ries im Sommer 1808 von Paris wieder nach Wien übergesiedelt war, lebte der Kontakt zu den Verlegern Nikolaus Simrock in Bonn und Ambrosius Kühnel in Leipzig wieder auf, mit dem Ergebnis, dass im Jahr darauf in Kühnels Bureau de Musique drei Werke von Ries erschienen, und dass Simrock ab 1810 damit begann, Ries’ Kompositionen im großen Stil zu veröffentlichen; in den Jahren 1810 und 1811 verlegte der alte Bonner Freund ungefähr 30 Werke von Ries, darunter auch die 1808 in Paris entstandenen Klaviersonaten op. 9, Nr. 1 und 2 sowie op. 26 in fis-Moll. In den folgenden Jahren verbreiteten sich seine Werke in ganz Europa, sie wurden von zahlreichen Verlagen nachgedruckt; eine besondere Genugtuung dürfte Ries gewesen sein, dass auch seine zuvor in Paris abgelehnten Werke Eingang in die Kataloge der dortigen Verleger fanden. Die Sonaten op. 9 und 26 beispielsweise fanden das Interesse des Verlegers Richault; darüber hinaus wurden sie in London, vereinzelt sogar in Italien nachgedruckt.

Anders als die ebenfalls von der Wiener Tradition geprägten Zeitgenossen Joseph Wölfl (1773-1812) und Anton Eberl (1765-1807), die in ihren Klaviersonaten im Großen und Ganzen bei der Tradition der Dreisätzigkeit blieben, nutzt Ries in den genannten Sonaten die von Beethoven für die Gattung erreichte Freiheit in der Gestaltung des Satzzyklus. Als Konstante bleibt lediglich der Kopfsatz in Sonatenform. 

In Op. 9, Nr. 1 steht ein Menuett an zweiter Stelle; als dritter und letzter Satz folgt eine Variationenfolge im Allegretto-Tempo. Das Hauptthema des Kopfsatzes prägt einen Thementypus aus, den man das „stolze Dur-Thema“ nennen könnte, und der in verschiedenen Abwandlungen auch in den frühen Klaviersonaten Beethovens anzutreffen ist (op. 2, Nr. 2 und 3; op. 22): Auftaktig und in vollgriffigen Akkorden ohne eigentliche thematische Bildung werden die harmonischen Hauptstufen der Grundtonart präsentiert, erst über der abschließenden Kadenz wird der pausendurchsetzte Duktus durch eine harmonisch auf der Dominante endende Spielfigur aufgelockert; der ganze Vorgang, erst im piano erklungen, wird im forte wiederholt, wobei der stolze Charakter des Themas durch imitierende Einsätze zwischen rechter und linker Hand, durch Erweiterung des Ambitus um eine Oktave nach oben sowie durch eine virtuose und mit sforzati angereicherte Modifikation der Spielfigur stärker hervortritt. Nach einer Überleitung, die anfangs in triolischen Wendungen einen diffusen Klangteppich herbeiführt und dann in beständiger Sechzehntelbewegung die neue Tonart der Dominante etabliert, folgt ein Seitenthema, dessen charakteristische Wendung ein melancholischer Einschlag durch die elegische Betonung der sechsten Stufe darstellt, der im Nachsatz zur kleinen Septe über einem verminderten Septakkord gesteigert erscheint. Nach oktavierter Wiederholung löst sich dieses Thema im virtuosen Passagenspiel auf, und erst kurz vor dem Ende der Exposition gebietet ein schrittweise absteigendes lyrisches Motiv im piano der beständigen Bewegung Einhalt. 

Die Bewegung von thematischer Bildung zu diffusem Passagenwerk kennzeichnet auch die mit 40 Takten Ausdehnung knapp gehaltene Durchführung: Sie arbeitet  - nach einer dramatischen Rückung von A (der Tonart des Expositionsschlusses) nach B im unisono über drei Oktaven und fortissimo - anfangs mit dem akkordischen Kopf des Hauptthemas, dann mit der Spielfigur von dessen Schluss, effektvoll gesteigert über verminderten Septakkorden und im Wechsel von rechter und linker Hand. Bei der folgenden Wiederaufnahme der Akkorde mischt sich bereits Passagenwerk in Sechzehnteln ein, das zehn Takte später vollends den Satz beherrscht, aber bald darauf in einem abrupten Abfall in die tiefsten Bassregionen auf h-Moll zum Stehen kommt. Eine Kadenz in Basstönen mit nachschlagenden Akkorden und überraschenden harmonischen Wendungen leitet über zur Reprise, die – abgesehen von der üblichen Versetzung der zweiten Hälfte  in die Grundtonart D-Dur – weitgehend eine unveränderte Wiederholung der Exposition darstellt.

Gewicht und Klangcharakter des nun folgenden Menuetts (Tempo di Menuetto ma molto moderato, d-Moll) rechtfertigen, dass es anstatt eines langsamen Satzes die zweite Stelle im Sonatenzyklus einnimmt; denn es handelt sich nicht um jenen zierlich-graziösen Tanz, wie man ihn aus Kompositionen des späten 18. Jahrhunderts kennt, sondern um eine ernste, nahezu archaisch wirkende Komposition, stark kontrapunktisch geprägt, teilweise im nackten zweistimmigen Satz Note gegen Note. Im zweiten Menuett-Teil kommt es zu kanonischen Einsätzen in aufsteigenden Quarten, die akkordische Begleitung einer kurzen zweitaktigen Phrase wird bei deren Wiederholung in kontrapunktierende Gegenstimmen aufgelöst, der Kontrapunkt verselbständigt sich und wird bei der Wiederaufnahme des Menuett-Themas im zweiten Teil zu einer nun vollgriffigen Gegenstimme ausgearbeitet. Mit diesem Satz lässt Ries das Vorbild Beethovens gänzlich hinter sich, und findet zu Satzstrukturen, die sowohl auf einige späte Werke von ihm selbst vorausweisen (etwa das Menuett seiner Sechsten Sinfonie) wie auch das gewachsene historische Bewusstsein der Komponistengeneration um 1800 reflektieren. 

Das (nicht als solches bezeichnete) Trio in D-Dur mit seiner nahezu volksliedhaften Oberstimmenmelodik zu pulsierender Triolenbegleitung kontrastiert stark zu dem archaisch-steifen Menuett-Hauptteil, auch wenn einzelne Motive auf das Material des Menuetts zurückverweisen. Nach dem Menuett-Da-Capo ist dem Satz noch eine zwölftaktige Coda (d-Moll) angefügt, in dem der Impetus der Triolenbegleitung aus dem Trio mit dem sperrigen punktierten Rhythmus des Menuetts kombiniert wird; sie endet in einer barocken Kadenzformel versöhnlich in D-Dur. 

Das Charakteristikum des Themas im abschließenden Variationssatz (Allegretto, D-Dur, Allabreve-Takt) ist der anfängliche großintervallige Sprung (zu Beginn Sexte; im zweiten Teil Oktave), der durch eine stufenweise abwärts führende Melodie zum Ausgangspunkt zurückgeführt wird, in der ersten Hälfte des Themas diatonisch, zu Beginn der zweiten Hälfte chromatisch eingefärbt. Die Dramaturgie der Variationenfolge gehorcht durchaus gängigen Prinzipien: Der schrittweise die Notenwerte verkleinernden Umspielung des Themas in den ersten beiden Variationen folgt die Reduktion des Themas auf seine Harmonien, wobei jeweils ein bestimmtes rhythmisches Muster eine Variation beherrscht: triolische Akkorde in der dritten, trillerartige Wechselnoten in der vierten, synkopisch versetzte akkordische Vollgriffigkeit in der fünften, Kaskaden gebrochener Akkorde in Sechzehntel-Triolen in der sechsten Variation. Die siebte Variation mit ihrem Wechsel zur Mollvariante und „più lento“ überschrieben markiert einen vollständigen Umschwung im Themencharakter, während die achte Variation die Restitution einleitet: Rückkehr zu Dur und zum Allegretto, aber die Triolierung aus den Variationen eins, drei und sechs werden nun durch Sechsachtel-Taktvorzeichnung zum Grundmetrum. Nach einem innehaltenden 6-taktigen Adagio-Einschub schließt der Satz mit einer durch spielerisch-graziöse Figuren zu Beginn aufgelockerten, und den charakteristischen Anfangssprung mit folgendem diatonischen Abwärtsgang betonenden, lyrischen Variante des Themas ab.

Bert Hagels

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